Beim Entrümpeln des elterlichen Dachbodens fand meine Cousine Angela im Mai dieses Jahres einen alten Holzkoffer, der noch aus Königsgnade stammt. Offenbar nutzten meine Großeltern Hedwig und Martin Radke das Fundstück bis zu ihrem Tod, um amtliche Papiere und andere Unterlagen aufzubewahren, die das Behältnis heute bis fast zur Hälfte füllen. — Ich kann mich nicht entsinnen, den Koffer je vorher gesehen zu haben, obwohl der Dachboden meiner Tante, in deren Haus auch meine Großeltern lebten, ein beliebter Kinderspielplatz war. Meine Cousine erkannte ihn hingegen auf Anhieb; seine Existenz war ihr freilich längst entfallen.
Nach der Familienüberlieferung baute mein Großvater den Koffer, der etwa 50 mal 27 mal 17 Zentimeter mißt, im Winter 1945/46 aus Holzresten und dem Leder alter Pferdeschirre zusammen. Meine Großmutter hatte von einer Polin, die seit einiger Zeit mit im Haus der Familie wohnte, erfahren, dass die Deutschen aus Königsgnade ausgewiesen werden sollten. Meine Großeltern hofften nun, mit Hilfe einiger selbstgefertigter Transportmittel wenigstens einige Besitzstücke mit in die Fremde nehmen zu können.
