Kalixtus von Grabski 1783-1835

Teil 2 – Der Verlust der Marzdorfer Güter

Kalixtus von Grabski war als Nachfahre der Tützer Wedel (Wedel-Tuczyński) der letzte Erbherr der Herrschaft Marzdorf. Teil 1 dieser biografischen Skizze behandelt sein Leben bis ins Jahr 1818. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege hatte Grabski Ernestine von Hartmann geheiratet und sich als Gutsherr in Marzdorf niedergelassen.

Grabskis Hauptprojekt in jenen Jahren war die Modernisierung des Marzdorfer Guts, wozu notwendigerweise die Durchführung der Bauernbefreiung gehörte. Nach eigener Aussage war Grabski »einer der ersten in hiesiger Provinz, der im Jahre 1814 auf die Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse anfrug«1Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 64.. Da das Regulierungs-Edikt vom September 1811 aber erst im Mai 1816 um eine Ausführungsdeklaration ergänzt wurde, verschob sich der Prozeß der Auflösung der feudalen Bindungen in Marzdorf bis in den Januar 1817. Eine detailreiche Schilderung der Umsetzung findet sich in der Pfarrchronik von Marzdorf2E. J. Krefft: Aus der Pfarrchronik von Marzdorf. In: Das Archiv, Nr. 6, August 2020. S. 10-15..

Grabski hatte sich entschlossen, das Gut und die Bauernwirtschaften in seiner Herrschaft räumlich zu trennen; er erbaute daher ein komplettes neues Dorf »aus 25 Bauerngehöften mit 30 Feuerstellen und beinahe 100 Gebäuden bestehend« auf der offenen Feldmark. Er nannte das Dorf, das »zu den schönsten in der Provinz gezählt werden mag«, Königsgnade, »in dem Vertrauen, daß die Gnade meines Allderdurchlauchtigsten Königs und Herren es mir möglich machen werde, mich dereinst der Früchte dieser Anlage zu erfreuen«3Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832, a. a. O., Blatt 64 Rückseite.. Pfarrer Krefft argwöhnte in der Pfarrchronik hinter der Aussiedlung der Marzdorfer Bauern den Einfluss von Ernestine von Grabski, die als »glühende Protestantin allen katholischen Bauern befahl, an die Grenzen des Gutes zu ziehen«4Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 9. – aber das ist kaum mehr als eine Unterstellung. Ablösung und Austuung waren die beiden Grundprinzipien der Eigentumsverleihung in Preußen; eine Trennung von Gutsbetrieb und bäuerlichen Wirtschaften machte ökonomisch Sinn und wurde auf vielen anderen Gütern ebenso durchgeführt5Interessant ist in diesem Zusammenhang die Darstellung der Herrschaft Groß Bellschwitz, die der Familie von Brünneck gehörte, in Benno Martiny: Fünfzig Jahre der Landwirthschaft Westpreußens. 1872, S. 120., S 285-306.. Ein Beispiel findet sich gleich in der unmittelbaren Nachbarschaft: Auch der Besitzer von Prochnow, Landrat von Germar, siedelte die freigewordenen Bauern seines Gutes im Verlauf der 1820er Jahre in das neugegründete Neu-Prochnow aus6Sigfrid Schneider: Die geographische Verteilung des Großgrundbesitzes im östlichen Pommern und ihre Ursachen, Leipzig 1942, S. 47..

Grabski konnte »die beträchtlichen Kosten« der Translokation nur dadurch aufbringen, dass er seine »hypothekarischen Schulden vermehrte, welches in dieser geldarmen Gegend selbst nur durch große Opfer zu bewirken war«7Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832, a. a. O.. Auch das vergrößerte Areal des Guts erforderte neue Investitionen, so musste Grabski »fünf Vorwerke«8Ebenda. – es handelte sich vermutlich um Böthin, Dreetz, Lubsdorf, Brunk und Marzdorf selbst – teilweise neu errichten und zum Ersatz der entfallenden Naturaldienste das Wirtschaftsinventar erweitern, was weitere Schulden nach sich zog. Im Rückblick sah der Marzdorfer Pfarrer Krefft in der Gründung des Dorfes Königsgnade die Ursache für den späteren Ruin Grabskis9Krefft, Pfarrchronik, ebenda. – aber diese Zusammenhang ist nicht konkludent. Die Austuung brachte dem Gut nicht nur »das bessere und geschlossenere Land«10S. Schneider, ebenda., sondern befreite es auch weitgehend von den Fürsorgelasten für die dörfliche Bevölkerung.

Nicht die »Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse« brachte Grabski in wirtschaftliche Schwierigkeiten, sondern es war die große Agrarkrise, die um 1822 in Preußen ausbrach und bis in die 1840er Jahre hinein anhielt. Die Getreidepreise, die 1817/18 einen Höchststand erreicht hatten, sanken auf etwa ein Drittel herab11B. Martiny, a. a. O., S.156, die Folge war »eine steigende Zahl von Zwangsvollstreckungen und ein allgemeiner Kreditmangel in der Landwirtschaft«12Herbert Pruns: Staat und Agrarwirtschaft 1800-1865, Subjekte und Mittel der Agrarverfassung und Agrarverwaltung im Frühindustrialismus. In: Berichte über Landwirtschaft, Zeitschrift für Agrarpolitik und Landwirtschaft [Hrsg.: Landwirtschaft und Forsten Bundesministerium für Ernährung], Neue Folge, Nr. 194 [Sonderheft], Hamburg und Berlin 1979, S. 28.. Für Grabski kamen noch »Unglücksfälle aller Art, als Mißärndten, Viehsterben usw.« hinzu, die schließlich dazu führten, dass er nicht mehr in der Lage war, »die laufenden landschaftlichen Zinsen zu decken«13Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832, a. a. O., Blatt 65..

JahrRoggenpreis in den östlichen Provinzen PreußensRoggenpreis in den westlichen Provinzen Preußens
1816-182057 Sgr. 11 Pf.84 Sgr. 10 Pf.
1820-183031 Sgr. 8 Pf.40 Sgr. 3 Pf.
1830-184037 Sgr. 3 Pf.49 Sgr. 9 Pf.
1840-185045 Sgr. 5 Pf.58 Sgr. 11 Pf.
1850-186062 Sgr. 5 Pf.74 Sgr. – Pf.
Durchschnittliche Roggenpreise in Preußen 1816-1820. Quelle: B. Hildebrand: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 1, Jena 1863, S. 13.

Eine erste Zwangsversteigerung der Marzdorfer Herrschaft wurde schon 1824 angedroht, konnte aber abgewendet werden, weil Grabskis Ehefrau als Pächterin des Gutes eintrat und die aufgelaufenen Zinsen in Höhe von 1.125 Talern bezahlte. Wie viele andere Güter stand auch Marzdorf seit diesem Zeitpunkt unter Zwangsverwaltung der Westpreußischen Landschaft in Schneidemühl 14Die preußischen »Landschaften« waren staatliche Kreditinstitute, die durch Pfandbriefe gedeckte Hypotheken an ausnahmslos adlige Gutsbesitzer vergaben. Siehe dazu Gustav Adolf Bergenroth: Über deutsche Anstalten zur Förderung des Kredits. Berlin 1847, S. 741.. Ein zweite Zwangsversteigerung stand 1827, eine dritte 1829 15Im Januar 1829 veröffentlichte der Allgemeine Anzeiger für die Preußischen Staaten einen ersten »Bietungstermin« für die »freien Allodial-Rittergüter Dorf Marzdorff, Dorf u. Vorwerk Brunk und Dorf Lubsdorff«, der auf den 7. Oktober 1829 terminiert war. Subhastationen. In: Allgemeiner Anzeiger für die Preußischen Staaten, Nr. 11, Berlin, 11. Januar 1829. im Raum, beide konnten verhindert werden, die letzte indem Frau von Grabski aus ihrem Erbe eine Zahlung von 1.872 Reichstaler 21 Silbergroschen für aufgelaufene Zinsen an die Landschaft leistete.16Bericht des Oberpräsidenten der Provinz Preußen, Theodor von Schön, an König Friedrich Wilhelm III. vom 3. Juli 1833. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski., Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 112.

Subhastations-Hinweis für Gut Marzdorf aus dem Anzeiger zur Allgemeinen Staats-Zeitung, Nr. 11, Januar 1829. Das Taxwert der Herrschaft Marzdorf war auf fast 73.000 Taler festgesetzt.

Die entscheidende Zwangsversteigerung wurde allerdings nicht von der Westpreußischen Landschaft betrieben, sondern vom Stadtrichter im pommerschen Labes, Carl Ferdinand Kloer17Carl Friedrich Kloer (* 12. März 1786 in Reetz; † 25. November 1857 in Liegnitz) kann als ein Beispiel für den Aufstieg aus der Beamtenklasse betrachtet werden. Schon 1808 besaß er als Justiz-Commissarius (Rechtsanwalt) in Labes »ein großes neugebautes Haus« und gehörte zu den Honoratioren der Stadt. 1812 wurde er zum Stadtrichter mit einem festen Gehalt von 180 Talern ernannt, bis mindestens 1828 war er Besitzer des Guts Roggow und in mehreren Fällen als Sequester eingesetzt. (H. Berghaus: Landbuch des Herzogthums Pommern. Berlin u. Wriezen 1874, S. 84.) Im Jahr 1827 hatte Kloer in zweiter Ehe Caroline von Bardeleben geheiratet, was einem Aufstieg in den privilegierten Adel gleichkam., der mit einer Summe von 5.721 Talern ebenfalls zu den Gläubigern von Kalixtus von Grabski gehörte. Der Allgemeine Anzeiger für die Preußischen Staaten veröffentlichte das Datum des ersten »Bietungstermins« – es war der 5. März 1831 – in der Nummer 58 vom 17. August 1830. Bei diesem ersten Termin lag nur ein Gebot vor, das Carl Ferdinand Kloer selbst abgegeben hatte. Er wollte die Herrschaft Marzdorf, deren Wert auf 72.746 Reichstaler geschätzt wurde, für 54.000 Reichstaler erwerben. Das Oberlandesgericht in Marienwerder nahm dieses erste Angebot nicht an und setzte einen zweiten Bietungstermin für den 17. September 1831 an. Auch bei diesem Termin wurde kein höheres Gebot abgegeben, doch erst bei einem dritten Termin am 18. Januar 1832 akzeptierte das Oberlandesgericht das Gebot Kloers. Der Verkauf eines Ritterguts war nur mit Zustimmung der Königlichen Regierung möglich, diese Adjudikation erfolgte am 8. Dezember 183218Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 18. März 1833. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, unpaginiert.. Da das Gut in Marzdorf noch bis Johanni 1833 an Ernestine von Grabski verpachtet war, konnte Kloer seinen Besitz erst im Sommer dieses Jahres antreten. Er teilte gleich darauf Brunk von Marzdorf ab und übertrug diesen Besitz seinem Bruder Jean. Wenig später veräußerte Kloer auch das Vorwerk Lubshof an die Familie Marquardt.

Es ist zweifellos wahr, dass Kalixtus von Grabski am Ende seines Lebens unter Depressionen litt, »schwarze Melancholie« heißt es bei Plewako. Dazu mag neben den finanziellen Nöten auch familiäres Elend beigetragen haben, denn nach Plewako gingen aus der Ehe der Grabskis zwölf Kinder hervor – sieben Jungen und fünf Mädchen –, von denen sieben schon in der Kindheit verstarben19In den Kirchenbuchduplikaten von Marzdorf ist unter dem Datum 20. September 1824 die Geburt eines totgeborenen Sohnes des Erbherrn auf Marzdorf verzeichnet. General-Akten des Königlichen Amtsgerichts in Märk. Friedland betreffend die Kirchenbuchduplikate der Gemeinde Marzdorf 1823-1874. In: Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 609/40, Blatt 16.. Plewako nennt als Nachfahren nur den jüngsten Sohn Otto Konstantin (1820; † 1889), überliefert ist aber auch die Tochter Pauline (1825; † 1878), die den Gutsbesitzer-Sohn Heinrich Wilhelm Boeck aus Harmelsdorf heiratete und mit ihm auf dem Freigut Jagdhaus bei Jastrow lebte20Deutsches Geschlechterbuch (Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien). [Hrsg.: Bernhard Körner], Band 16, Görlitz 1910, S. 117..

Da Grabski überzeugt war, dass ihm bei der Zwangsversteigerung von Marzdorf Unrecht widerfahren war, verfasste er am 3. April 1832, am 7. November 1832 und am 18. März 1833 drei Briefe an den »allerdurchlauchtigsten, großmächtigen König«, seinen »allergnädigsten König und Herr«, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin archiviert sind21Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899.. In den Briefen warf er den preußischen Behörden in Marienwerder und Königsberg vor, sie hätten das Marzdorfer Gut unterbewertet, Alternativen zur Zwangsversteigerung nicht geprüft, den Bieterkreis bewusst kleingehalten und Kloer die Herrschaft auf diese Weise »unverhältnißmäßig billig«22Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 18. März 1833, a. a. O. überlassen. Auf seine Gattin und seine fünf Kinder verweisend, schrieb Grabski:

»Zu schwach sind meine Worte um Ew. Königlichen Majestät ein Bild der jammmervollen Zukunft zu entwerfen, die meiner und der Meinigen harrt, wenn man mich wirklich aus dem Erbe meiner Väter vertreiben sollte. Obgleich seit Jahren mit Entbehrungen aller Art vertraut, so schrecke ich dennoch vor dem Augenblick zurück, wo ich meine Gattin und meine 5 unmündigen Kinder des schützenden Obdachs beraubt, und mich außer Stande sehen werde, den geliebten Meinigen den nothdürftigsten Lebensunterhalt zu gewähren. Drei hoffnungsvolle Knaben sind mir geschenkt, die mit freudiger Ungeduld dem Augenblick entgegensehen, wo ihr Alter es ihnen gestatten werde, in die Reihen Ew. Königlichen Majestät Heeres einzutreten, und sich daselbst eine Stelle zu verdienen, auf die sie durch ihre Geburt angewiesen sind, doch schmerzlich würden sie sich in ihren Hoffnungen getäuscht sehen. Der nöthigsten Mittel beraubt, würde ihnen keine andere Wahl bleiben, als denselben Boden als Knechte zu bebauen, den ihre Vorfahren in einer lange Reihe von Jahren als Grundherren beseßen haben.«23Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832. In: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, unpaginiert. – Es bleibt ein Rätsel, warum Grabski vom »Erbe seiner Väter« spricht. Er selbst hatte die Herrschaft von der Mutter geerbt.

Das Oberlandesgericht in Marienwerder, der preußische Finanzminister Maaßen und der Justizminister Mühler wiesen die Vorwürfe zurück, aber es scheint doch so gewesen zu sein, dass Kloer durch seine guten Kontakte zur Justiz eine verhältnismäßig schnelle und vor allem stille Durchführung des Verfahrens erreichen konnte. Inserate, die auf die Versteigerung hinwiesen, wurden nur im Intelligenz-Blatt für Marienwerder und in der Staats-Zeitung veröffentlicht; auf die sonst üblichen Hinweisanzeigen in den Amtsblättern24Die letzten Verpachtungen von Marzdorf und Dreetz wurden hingegen im Mai 1832 selbstverständlich auch im Amts-Blatt für Marienwerder inseriert. wurde verzichtet. Außerdem fanden die letzten beiden Bietungstermine zu einer Zeit statt, als die große Cholera-Epidemie des Jahres 1831 auch den Kreis Deutsch Krone und namentlich Tütz bedrohte25Im Oktober 1831 hatte die Cholera den Kreis Deutsch Krone erreicht, am 16. November 1831 gab es in Tütz den ersten Krankheitsfall. Karl Friedrich Burdach: Historisch-statistische Studien über die Cholera-Epidemie vom Jahr 1831, Königsberg 1832, S. 12..

Kloer profitierte zudem von den Vorgaben des Oberpräsidenten der Provinz Preußens, Theodor von Schön 26Zu Heinrich Theodor von Schön (* 20. Januar 1773 in Schreitlaugken, Kreis Tilsit; † 23. Juli 1856 auf Gut Arnau bei Königsberg i. Pr.) und seine Ideen siehe die immer noch lesenswerte Arbeit von E. W. Mayer: Das Retablissement Ost- und Westpreußens. Jena 1916, S. 37 ff., der stets auf eine rücksichtslose Durchführung von Zwangsversteigerungen drang, wenn er den Verdacht hegte, die Gutsherren seien aus eigener Kraft zu einem dauerhaften Erhalt ihres Besitzes nicht in der Lage. Obwohl Schön kein Nationalist war, hegte er antipolnische Ressentiments 27Das Schlagwort von der polnischen Wirtschaft findet sich bei Schön u. a. im Jahr 1831. Henryk Kocój: Preußen und Deutschland gegenüber dem Novemberaufstand (1830-1831), Kattowice 1990, S. 38. und wertete es im Jahr 1833 als Erfolg, dass während seiner Amtszeit »mehr als die Hälfte der polnischen Gutsbesitzer […] Westpreußen freiwillig verlassen«28Horst Mies: Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirkes Marienwerder 1830-1870, Köln u. Berlin 1972, S. 52 ff., S. 51. – Schön betrieb in Westpreußen eine Germanisierungspolitik »im tiefen Glauben an die kulturelle Überlegenheit der Deutschen«, um »die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse […] zu verbessern«. Tzu-hsin Tu: Die Deutsche Ostsiedlung als Ideologie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Dissertation, Kassel 2009, S. 56. habe. Die Mittel des vom ihm verwalteten Landesunterstützungsfonds von drei Millionen Taler, die König Friedrich Wilhelm III. zur Minderung der Agrarkrise in Preußen ausgesetzt hatte, kamen ausschließlich den Grundbesitzern zu Gute, die Schön zum staatstragenden »alten Stamm«29E. W. Mayer, a. a. O. 1916, S. 45. zählte; im Kreis Deutsch Krone war Landrat von Zychlinski der einzige Empfänger30Er erhielt bereits 1828 4 .000 Taler. Peter Böhning: Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen 1815-1871. Marburg/Lahn 1973, S. 221..

Titel und Schluss des Briefes Grabskis an König Friedrich Wilhelm III vom 18. März 1833

In Grabskis Fall lehnte von Schön alle Hilfsersuchen ab, auch die zuletzt erbetene Summe von 4.880 Taler, deren Gewährung zum Erhalt des Erbbesitzes die Landstände des Kreises Deutsch Krone befürworteten31Briefkonzept Friedrich Wilhelm III. an Theodor von Schön vom 11. Dezember 1832. In: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, unpaginiert.. Selbst eine Bitte von Frau von Grabski um Unterstützung nach der erfolgten Adjudikation beschied von Schön abschlägig; in seiner Antwort aus Königsberg vom 3. Juli 1833 findet sich folgende boshafte Formulierung:

»Die Frau von Grabsky hielt sich für wohlhabend, richtete ihre Lebensweise danach ein, und als auf den Antrag eines eingetragenen Gläubigers das Gut Martzdorff verkauft werden mußte, zeigte es sich, daß kein Vermögen da war. Anspruch auf Unterstützung aus Staatsfonds hat diese Familie nicht.«32Bericht Schöns aus Königsberg vom 3. Juli 1833. In: Ebenda.

Diese Aussage lässt erahnen, dass Schön sich allein durch Vorurteile leiten ließ und über die tatsächlichen Verhältnisse nicht informiert war. Nach allem, was wir wissen, war Ernestine von Grabski eine keinesfalls dünkelhafte, jedoch besonders fleißige Frau. Karl Hunger fasste 1936 zusammen, wie sich ihre Erinnerung im kollektiven Gedächtnis der Brunker Bevölkerung darstellte:

»Frau von Grabska muss eine ziemlich resolute Frau gewesen sein. Es wird ihr nachgesagt, dass sie außerordentlich arbeitsam war. Bei ihren misslichen Verhältnissen, die ihr nicht gestatteten, einen Inspektor zu halten, und bei der Indolenz ihres Mannes[,] beaufsichtigte sie selbst die Leute, stand früh auf, um besonders zur Erntezeit mit den Arbeitern auf das Feld zu gehen, zog sogar mit den Mägden und Frauen nach dem Vorwerke Brunk, um dort das Getreide einzuheimsen. Doch dieser persönliche Fleiß war nicht imstande, dem Ruin abzuhelfen.«33Karl Hunger: Geschichte und Volkskunde des Dorfes Brunk im Kreis Deutsch Krone, Neuausgabe, Köln 2021, S. 52

Von Schöns Ausfall abgesehen, wurde Grabskis »Reclamation« in Berlin sorgfältig und durchaus nicht ohne Mitgefühl geprüft. Vor allem König Friedrich Wilhelm III. scheint den Übergang der Marzdorfer Herrschaft in bürgerliche Hände nur ungern genehmigt zu haben; er drang lange auf ein »Arrangement […] zwischen dem v. Grabski u. seinem Gläubiger Justizrath Klör«, um den »Schuldner dadurch im Besitz seiner Güter« zu halten34Briefkonzept Friedrich Wilhelm III. an Theodor von Schön vom 11. Dezember 1832. In: Ebenda.. Am Ende wurde die Ablehnung von Staatshilfen juristisch begründet; die Formel dazu hatte Justizministers Mühler im März 1832 vorgegeben:

»Die angeblichen Verdienste, die Sie [Grabski] sich durch die bei dem Gute gemachten Anlagen um den Staat erworben haben wollen, so wie die im Laufe der Zeit Sie betroffenen Unglücksfälle, dürfen auf die den eingetragenen Gläubigern zustehende Rechtsverfolgung nicht includiren.«35Brief des preußischen Justizministers Heinrich Gottlob Mühler an Kalixtus von Grabski vom 22. März 1832. In: Ebenda.

Als der Verkauf von Marzdorf bereits genehmigt war, bemühte sich Kalixtus von Grabski, ein »Dominial-Vorwerk in Posen oder die Oberförsterei Wildenow bei Landsberg« in Erbpacht zu erhalten. »Von Jugend auf für die Bestimmung des Landwirths erzogen, vermag ich nur als Landmann Nützliches zu wirken, und darf noch hoffen, die Existenz meiner Familie sicher begründen zu können, falls mir die Mittel werden, eine wenn auch nur kleine Landwirtschaft zu betreiben«36Brief Grabskis an die königliche Regierung vom 18. März 1833. In: Ebenda., schrieb er am 18. März 1833 an die königliche Regierung. Aber auch diese Pläne scheiterten im Verlauf des Jahres 1834, da Grabski die 2.000 Taler Kapital fehlten, die bei der Übernahme eines »Erbpacht-Etablissements […] zur Anschaffung des Wirtschafts-Inventars«37Brief des Finanzministers Karl Georg Maaßen an den König vom 3. Juni 1834. In: Ebenda. erforderlich waren. Lediglich zur Gewährung einer Zahlung von 100 Talern aus dem königlichen Dispositionsfonds »zum Erhalt der fünf Kinder« konnte sich die Regierung am 28. Juli 1834 entschließen.38Konzept eines Schreiben des Königs an Finanzminister Maaßen vom 28. Juli 1834. In: Ebenda.

Von einer möglichen antipreußischen Einstellung Grabskis ist in der umfangreichen Akte nirgendwo die Rede. Im Gegenteil: Grabski bekennt sich mehrfach als treuer Anhänger der preußischen Monarchie, der auch »seine drei Knaben zu nützlichen Menschen und treuen Unterthanen«39Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 18. März 1833. In: Ebenda. erziehen will. Kein Dokument der Akte gibt einen Anhalt dafür, dass »die polnischen Besitzer vom preußischen Staat enteignet« wurden, wie es Czesław Piskorski im Jahr 1980 behauptete40Czesław Piskorski: Marcinkowice – jedna z siedzib rodu Wedlów-Tuczyńskich [Marzdorf – einer der Sitze der Familie Wedel-Tuczynski]. In: Jantarowe Szlaki. Kwartalnik Turystyczno-Krajoznawczyk (Województw Północnych). [Hrsg.: PTTK], 23. Jahrgang, Heft 1 (175), Gdańsk, 1980, S. 36.. Genau wie bei den benachbarten Herrschaften Tütz und Prochnow (Zwangsversteigerung 1841) war die Subhastation der Marzdorfer Güter ein Resultat der Agrarkrise, deren Auswirkungen – nicht nur auf den Adel, sondern vor allem auf den Bauernstand – den preußischen Staat freilich zutiefst überforderten. Das Fazit dieser Krise zog Wilhelm Vallentin 1893:

»Besonders 1824-26 wurde infolge schlechter Ernten, niedriger Getreidepreise und gänzlicher Kreditlosigkeit der Wohlstand des Landes tief untergraben, und viele Besitzer sahen sich genötigt, ihr Besitztum mit dem Verluste ihres ganzen Vermögens zu verlassen. Nicht einmal die geringen grundherrlichen Abgaben konnten aufgebracht und ganze Herrschaften mussten für geringes Geld verkauft werden. So standen 1826 ein Dritteil aller ›bepfandbrieften Güter‹ und 87 bäuerliche Nahrungen in der Subhastation, 760 wurden als solche bezeichnet, deren Zustand so zerrüttet war, dass die Wirte sich nicht halten konnten […] Erst am Ende des dritten und am Anfange des vierten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts fing sich allmählich an ein Umschwung in den Wertverhältnisses des Besitzes kund zu thun.«41 Wilhelm Vallentin: Westpreußen seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung des allgemeinen Wohlstandes in dieser Provinz und ihren einzelnen Theilen. Tübingen, 1893, S. 32 f.

Anmerkungen:

  • 1
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 64.
  • 2
    E. J. Krefft: Aus der Pfarrchronik von Marzdorf. In: Das Archiv, Nr. 6, August 2020. S. 10-15.
  • 3
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832, a. a. O., Blatt 64 Rückseite.
  • 4
    Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 9.
  • 5
    Interessant ist in diesem Zusammenhang die Darstellung der Herrschaft Groß Bellschwitz, die der Familie von Brünneck gehörte, in Benno Martiny: Fünfzig Jahre der Landwirthschaft Westpreußens. 1872, S. 120., S 285-306.
  • 6
    Sigfrid Schneider: Die geographische Verteilung des Großgrundbesitzes im östlichen Pommern und ihre Ursachen, Leipzig 1942, S. 47.
  • 7
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832, a. a. O.
  • 8
    Ebenda.
  • 9
    Krefft, Pfarrchronik, ebenda.
  • 10
    S. Schneider, ebenda.
  • 11
    B. Martiny, a. a. O., S.156
  • 12
    Herbert Pruns: Staat und Agrarwirtschaft 1800-1865, Subjekte und Mittel der Agrarverfassung und Agrarverwaltung im Frühindustrialismus. In: Berichte über Landwirtschaft, Zeitschrift für Agrarpolitik und Landwirtschaft [Hrsg.: Landwirtschaft und Forsten Bundesministerium für Ernährung], Neue Folge, Nr. 194 [Sonderheft], Hamburg und Berlin 1979, S. 28.
  • 13
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832, a. a. O., Blatt 65.
  • 14
    Die preußischen »Landschaften« waren staatliche Kreditinstitute, die durch Pfandbriefe gedeckte Hypotheken an ausnahmslos adlige Gutsbesitzer vergaben. Siehe dazu Gustav Adolf Bergenroth: Über deutsche Anstalten zur Förderung des Kredits. Berlin 1847, S. 741.
  • 15
    Im Januar 1829 veröffentlichte der Allgemeine Anzeiger für die Preußischen Staaten einen ersten »Bietungstermin« für die »freien Allodial-Rittergüter Dorf Marzdorff, Dorf u. Vorwerk Brunk und Dorf Lubsdorff«, der auf den 7. Oktober 1829 terminiert war. Subhastationen. In: Allgemeiner Anzeiger für die Preußischen Staaten, Nr. 11, Berlin, 11. Januar 1829.
  • 16
    Bericht des Oberpräsidenten der Provinz Preußen, Theodor von Schön, an König Friedrich Wilhelm III. vom 3. Juli 1833. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski., Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 112.
  • 17
    Carl Friedrich Kloer (* 12. März 1786 in Reetz; † 25. November 1857 in Liegnitz) kann als ein Beispiel für den Aufstieg aus der Beamtenklasse betrachtet werden. Schon 1808 besaß er als Justiz-Commissarius (Rechtsanwalt) in Labes »ein großes neugebautes Haus« und gehörte zu den Honoratioren der Stadt. 1812 wurde er zum Stadtrichter mit einem festen Gehalt von 180 Talern ernannt, bis mindestens 1828 war er Besitzer des Guts Roggow und in mehreren Fällen als Sequester eingesetzt. (H. Berghaus: Landbuch des Herzogthums Pommern. Berlin u. Wriezen 1874, S. 84.) Im Jahr 1827 hatte Kloer in zweiter Ehe Caroline von Bardeleben geheiratet, was einem Aufstieg in den privilegierten Adel gleichkam.
  • 18
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 18. März 1833. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, unpaginiert.
  • 19
    In den Kirchenbuchduplikaten von Marzdorf ist unter dem Datum 20. September 1824 die Geburt eines totgeborenen Sohnes des Erbherrn auf Marzdorf verzeichnet. General-Akten des Königlichen Amtsgerichts in Märk. Friedland betreffend die Kirchenbuchduplikate der Gemeinde Marzdorf 1823-1874. In: Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 609/40, Blatt 16.
  • 20
    Deutsches Geschlechterbuch (Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien). [Hrsg.: Bernhard Körner], Band 16, Görlitz 1910, S. 117.
  • 21
    Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899.
  • 22
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 18. März 1833, a. a. O.
  • 23
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832. In: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, unpaginiert. – Es bleibt ein Rätsel, warum Grabski vom »Erbe seiner Väter« spricht. Er selbst hatte die Herrschaft von der Mutter geerbt.
  • 24
    Die letzten Verpachtungen von Marzdorf und Dreetz wurden hingegen im Mai 1832 selbstverständlich auch im Amts-Blatt für Marienwerder inseriert.
  • 25
    Im Oktober 1831 hatte die Cholera den Kreis Deutsch Krone erreicht, am 16. November 1831 gab es in Tütz den ersten Krankheitsfall. Karl Friedrich Burdach: Historisch-statistische Studien über die Cholera-Epidemie vom Jahr 1831, Königsberg 1832, S. 12.
  • 26
    Zu Heinrich Theodor von Schön (* 20. Januar 1773 in Schreitlaugken, Kreis Tilsit; † 23. Juli 1856 auf Gut Arnau bei Königsberg i. Pr.) und seine Ideen siehe die immer noch lesenswerte Arbeit von E. W. Mayer: Das Retablissement Ost- und Westpreußens. Jena 1916, S. 37 ff.
  • 27
    Das Schlagwort von der polnischen Wirtschaft findet sich bei Schön u. a. im Jahr 1831. Henryk Kocój: Preußen und Deutschland gegenüber dem Novemberaufstand (1830-1831), Kattowice 1990, S. 38.
  • 28
    Horst Mies: Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirkes Marienwerder 1830-1870, Köln u. Berlin 1972, S. 52 ff., S. 51. – Schön betrieb in Westpreußen eine Germanisierungspolitik »im tiefen Glauben an die kulturelle Überlegenheit der Deutschen«, um »die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse […] zu verbessern«. Tzu-hsin Tu: Die Deutsche Ostsiedlung als Ideologie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Dissertation, Kassel 2009, S. 56.
  • 29
    E. W. Mayer, a. a. O. 1916, S. 45.
  • 30
    Er erhielt bereits 1828 4 .000 Taler. Peter Böhning: Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen 1815-1871. Marburg/Lahn 1973, S. 221.
  • 31
    Briefkonzept Friedrich Wilhelm III. an Theodor von Schön vom 11. Dezember 1832. In: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, unpaginiert.
  • 32
    Bericht Schöns aus Königsberg vom 3. Juli 1833. In: Ebenda.
  • 33
    Karl Hunger: Geschichte und Volkskunde des Dorfes Brunk im Kreis Deutsch Krone, Neuausgabe, Köln 2021, S. 52
  • 34
    Briefkonzept Friedrich Wilhelm III. an Theodor von Schön vom 11. Dezember 1832. In: Ebenda.
  • 35
    Brief des preußischen Justizministers Heinrich Gottlob Mühler an Kalixtus von Grabski vom 22. März 1832. In: Ebenda.
  • 36
    Brief Grabskis an die königliche Regierung vom 18. März 1833. In: Ebenda.
  • 37
    Brief des Finanzministers Karl Georg Maaßen an den König vom 3. Juni 1834. In: Ebenda.
  • 38
    Konzept eines Schreiben des Königs an Finanzminister Maaßen vom 28. Juli 1834. In: Ebenda.
  • 39
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 18. März 1833. In: Ebenda.
  • 40
    Czesław Piskorski: Marcinkowice – jedna z siedzib rodu Wedlów-Tuczyńskich [Marzdorf – einer der Sitze der Familie Wedel-Tuczynski]. In: Jantarowe Szlaki. Kwartalnik Turystyczno-Krajoznawczyk (Województw Północnych). [Hrsg.: PTTK], 23. Jahrgang, Heft 1 (175), Gdańsk, 1980, S. 36.
  • 41
    Wilhelm Vallentin: Westpreußen seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung des allgemeinen Wohlstandes in dieser Provinz und ihren einzelnen Theilen. Tübingen, 1893, S. 32 f.

Kalixtus von Grabski 1783-1835

Teil 1 – Jugend und Heirat

Der letzte Erbherr der Herrschaft Marzdorf verleitet zu vorschnellen Urteilen. Schon die Zeitgenossen – so der preußische Staatsmann Theodor von Schön – steckten ihn rasch in eine Schublade, in der ihn die Historiker des Deutsch Kroner Landes später endgültig fixierten. Sie alle schlossen vom Namen auf die Nationalität und von dieser auf die Gesinnung, die sie, je nach Standpunkt, negativ oder positiv werteten. Bei diesem Verfahren wurde aus dem letzten Erbherrn des Marzdorfer Guts entweder ein untüchtiger polnischer Gutsherr1K. Hunger: Geschichte des Dorfs Brunk. Semesterarbeit, Beuthen 1936, S. 45. oder aber ein polnischer antipreußischer Patriot2L. Bąk: Ziemia Wałecka w dobie reformacji i kontrreformacji w XVI–XVIII w. [Reformation und Gegenreformation im Deutsch Kroner Land vom 16. bis 18. Jahrhundert]. Piła 1999, S. 18..

Bei näherem Hinsehen ist jedoch schon die erste Stufe der angeblichen Kausalität nicht ganz trittfest. In den – im übrigen ausnahmslos deutschsprachigen – Briefen und Dokumenten, die vom letzten Marzdorfer Erbherrn überliefert sind, ist der Name keinesfalls eindeutig, denn sie weisen die folgenden Unterschriften auf: Im Jahr 1803 Maximilian Joseph Kalixt v. Grabski 3Immatrikulation der Brüder v. Grabski am 14.05.1803. In: Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Matrikelbücher 1791-1806, Signatur UAHW, Rep. 46, Nr. 7., 1822 Kalixtus v. Grabsky4Dienstbrief für den Schullehrer Johann Neumann vom 17.07.1822, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin, Signatur HA XIV, Rep. 181, Nr. 8839, Seite 142., 1830 K. von Grabsky5Königl. Preußische Regierung zu Marienwerder: Acta das Hospital in Martzdorff betreffend. LDS-Film 008464556, S. 265., 1832 Kalixtus v. Grabski6Brief Grabskis an Friedrich-Wilhelm III., König von Preußen vom 3.04.1832, in: GStA PK, Signatur I. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 67 (Rückseite).. In der Todesnachricht im Deutschen Nekrolog von 1837, die zweifellos von der Familie initiiert war, wird er als Jos. Calixtus Maximil. Grabo v. Grabski7Neuer Nekrolog der Deutschen. [Hrsg.: Bernhard Friedrich Voigt], 13. Jahrgang: 1835, Zweyter Theil, Weimar (Voigt) 1837, S. 1217. bezeichnet. Eine polnische Schreibweise des Namens findet man erst in der Gegenwart; sie hat sich allerdings über das Internet durchgesetzt, wo der Name durchgängig Kalikst Józef Maksymilian z Grabu Grabski 8So bei S. J. Plewako: Kalikst Józef Maksymilian z Grabu Grabski. Internetadresse: http://www.grabski.plewako.pl/. Dieser Webseite wurden auch die genealogischen Angaben entnommen, die jedoch auch an anderer Stelle (z.B. https://www.sejm-wielki.pl/) zu finden sind. Plewako ist ein direkter Nachfahr von Kalixtus von Grabski. geschrieben wird.

Todesanzeige im »Neuen Nekrolog der Deutschen«, Januar 1835

Unbestreitbar ist die Herkunft Grabskis aus der polnischen Szlachta; sowohl die Familie seines Vaters als auch die seiner Mutter gehörten einer der Wappengenossenschaften an, die das Geschick der Rzeczpospolita bestimmt hatten. Grabskis Vater war der königlich-polnische Rittmeister Franciszek Ksawery von Grabski (* 1751; † 1785) aus der Genossenschaft der Wczele, seine Mutter war Eleonora geborene Krzycka (* 1751; † 1795) aus dem Verbund der Kotwicz. Kalixtus von Grabski wurde als zweiter Sohn dieser Ehe 1783 auf Schloss Strelitz in Strzelce bei Chodzież (deutsch: Chodziesen, später Kolmar) geboren und am 4. Juni 1783 in der Pfarrkirche in Chodzież getauft. Sein Bruder Onuphrius Antonius von Grabski kam am 24. Februar 1782 zur Welt, war also nur 16 Monate älter. Die Namensgebung für beide Söhne deutet auf eine gewisse Frömmigkeit hin, mag aber im Fall des älteren Bruders vielleicht auch als Hinweis auf ein polnisches Nationalbewusstsein gedeutet werden. Der heilige Onuphrius, der im vierten Jahrhundert in Ägypten lebte, wird bis heute in der Fronleichnamskirche in Posen/Poznań verehrt, die wiederum dem Andenken an den polnischen Sieg über den deutschen Orden in der Schlacht von Tannenberg/Grunwald im Jahr 1410 gewidmet ist9Die Fronleichnamkirche in Poznań (Posen). In: Region Wielkopolska, Internetadresse: https://regionwielkopolska.pl/de/katalog-obiektow/kosciol-pw-bozego-ciala-w-poznaniu/. Der Vorname Kalixst ist hingegen in Polen bis heute verbreitet und leitet sich von drei Päpsten des Namens her.

Stammwappen der Häuser Wczele und Kotwicz

Der Geburtsort der beiden Brüder lag in Preußen, denn Chodziesen gehörte zum Croner Kreis im Netzedistrikt, den Friedrich II. bei der ersten Teilung Polens seinem Königreich angeschlossen hatte. Anton von Krzycki, der Großvater mütterlicherseits und Besitzer der Herrschaft Marzdorf, hatte kurz vor seinem Tod im September 1772 dem preußischen König gehuldigt und den Untertaneneid abgelegt10E. Żerniecki-Szeliga: Geschichte des Polnischen Adels. Hamburg 1905, S. (A) 44..

Eleonora von Krzycka war dreimal verheiratet. Aus der ersten Ehe mit Adam Józef Grudziński (* 1732; † 1779) gelangte sie in den Mitbesitz von Schloss Strelitz, das aber schon 1789 an Christoph von Zacha verkauft wurde. Nach dem Tod von Franciszek Ksawery von Grabski heiratete sie am 19. Oktober 1786 in Mądre (deutsch: Klugen) bei Zaniemyśl (deutsch: Santomischel) Antoni Wyganowski (* 1754). Aus der Pfarrchronik von Marzdorf ist bekannt, dass Wyganowskis Schwester, Kunegunda Świderska, das Gut in Marzdorf zwischen 1794 und 1808 gepachtet hatte11E. J. Krefft: Aus der Pfarrchronik von Marzdorf. In: Das Archiv, Nr. 6, August 2020. S. 8.. Über die Mutter waren Onuphrius und Kalixtus von Grabski direkte Nachfahren der Familie von Wedel (Wedel-Tuczyński), die seit dem frühen 14. Jahrhundert in Tütz nachweisbar ist.

Im Mai 1803 immatrikulierten sich Onuphrius und Kalixtus von Grabski an der Universität von Halle12Immatrikulation der Brüder v. Grabski …, a. a. O., der damals wohl bedeutendsten preußischen Hochschule. Im Matrikelbuch benannten beide Brüder, die damals 21 und 19 Jahre zählten, »Neustadt« als Herkunftsort und »Maximilian von Grabski in Neustadt/Jabkowo« als ihren Vormund. Gemeint ist damit Neustadt an der Warthe (heute: Nowe Miasto nad Wartą), das etwa zwanzig Kilometer von Mądre entfernt liegt. Das Dorf Jabkowo heißt auf polnisch Jabłkowo und liegt in der Nähe von Gnesen; es gehörte – wie alle aufgeführten Orte – seit der zweiten Teilung Polens im Jahr 1793 zur preußischen Provinz Südpreußen. Maximilian von Grabski (* ca. 1750) war ein Bruder des Vaters und seit 1790 mit Małgorzata Dorpowska verheiratete, deren Familie Jabłkowo gehörte. Als Beruf des Vormunds gaben die beiden Brüder »Kammerherr« an.

Das Matrikelbuch enthält weiter die Angabe, dass Onuphrius und Kalixtus von Grabski in Halle »blos Cameralia zu Ihrem Vergnügen«13Ebenda. studierten und ihr Studium »kommersfrei« gestellt war – sie also nicht an den offiziellen Terminen der Universität teilnehmen mussten. Diese Art von Studium diente ganz offensichtlich nicht einem späteren Broterwerb, sondern der Vorbereitung auf die traditionelle Rolle des Gutsherrn auf ererbtem Besitz.

Es ist unbekannt, wie lange sich Onuphrius und Kalixtus von Grabski in Halle aufhielten. Im Oktober 1806 wurde die Stadt allerdings von den Truppen Napoleons besetzt und der Lehrbetrieb der Universität stark eingeschränkt. Das Hauptgebäude diente als Lazarett. Anfang November brach in der Provinz Südpreußen ein Aufstand gegen den preußischen Staat aus, der sich seit den verlorenen Schlachten von Jena und Auerstedt in einer tiefen Krise befand. Sowohl Neustadt an der Warthe als auch Jabkowo gehörten zum Aufstandsgebiet und – nach dem Erfolg der Erhebung – ab Juli 1807 zum polnischen Staat des »Herzogtums Warschau«, den Napoleon von Dresden aus gegründet hatte. Jan Stanisław Plewako, der auf Notizen seines Vaters Stefan Grabski – eines Enkels von Kalixtus – zurückgreifen konnte, berichtet auf seiner Webseite, Kalixtus von Grabski habe »in der polnischen Armee gedient, in der er 1808 den Rang eines Leutnant erreichte«. Er erwähnt außerdem eine spätere Gefangenschaft in der preußischen Festung Graudenz14Plewako a. a. O..

In der Pfarrchronik von Marzdorf heißt es, dass die Marzdorfer Herrschaft nach dem Tod von Antoni Wyganowski an Onuphrius und Kalixtus von Grabski fiel15Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 8.. Diese Darstellung ist nicht stimmig, denn Wyganowski lebte einer Notariatsurkunde zufolge bis mindestens 181116E. H. Nejman: Wypisy z aktów notariuszy szadkowskich 1809-1873 [Auszüge aus den Urkunden der Notare von Szadków]. Zduńska Wola 2014, S. 18.. Im Staatsarchiv von Koszalin wird aber eine Katasterkarte des »zum hochadelichen Gute Marzdorff gehörigen« Dorfes Brunk verwahrt, die 1827 nach Vermessungsunterlagen aus dem Jahr 1805 gezeichnet wurde. Die Vermessung des Dorfes, das »Sr. Hochwohlgeboren dem Herrn v. Grabski zugehörig« war, geschah damals auf »Verlangen Sr. Hochwohlgeboren des Herrn v. Wiganowski«17Karte von dem zum hochadelichen Gute Marzdorff gehörigen Dorfe Brunk Sr. Hochwohlgeboren dem Herrn v. Grabski zugehörig, auf Verlangen Sr. Hochwohlgeboren des Herrn v. Wiganowski vermessen im Jahr 1805. Fundort der Quelle: Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/55/0/-/7784.. Offenbar war den beiden Brüder ihr Erbe, das 1805 auf 80 000 Taler18Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 8. geschätzt wurde, bereits zu Lebzeiten von Antoni Wyganowski zugefallen. Onuphrius und Kalixtus von Grabski beschlossen den Besitz zu teilen; Onuphrius erhielt Stibbe, das er aber schon 1817 an Joseph Gottlieb Körner veräußerte19Onuphrius von Grabski hatte bereits 1806 Anna Brzeska geheiratet, im Jahr 1810 heiratete er in zweiter Ehe Otolia Gorzeńska (* 1790; † 1862). Im Herbst 1821 gehörte er zu den Mitbegründern der Posener Landschaft (siehe: Landschaftliche Kredit-Ordnung für das Großherzogtum Posen. Vom 15ten Dezember 1821. In: Gesetzessammlung für die Königlichen preußischen Staaten, Nr. 20, 1821, Berlin o. J., S. 218-263.) Er starb am 20. Oktober 1827 in Lgów (deutsch: Lugfeld) bei Jarotschin., Kalixtus übernahm Marzdorf mit Brunk, Lubsdorf und den beiden Vorwerken Böthin und Dreetz. Ab 1807 war er Patron der örtlichen Pfarrkirche, ab 1808 wird er auch in den Schultabellen als Patron genannt20Königl. Preußische Regierung Marienwerder: Acta die Schul Tabellen aus der Posenschen Diöcese betreffend [1808], in: LDS-Film 008106931., die Kirchenrechnungen unterzeichnete er jedoch erst ab dem Jahr 181221Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 8..

Grabski selbst erklärte 1832, er habe »den Besitz der Marzdorfer vor 27 Jahren«22Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 64. aus der väterlichen Erbschaft angetreten – mithin im Jahr 1807. Damals waren die Güter »ganz unverschuldet«, aber die »drückenden Lasten des Krieges«, die ihn, »an der großen Militairstraße nach Rußland wohnend«23Ebenda., vor vielen anderen Landesleuten betroffen hätten, nötigten ihn bald, die landschaftliche Schuld so weit zu vergrößern, wie es die Verfassung des ritterschaftlichen Kreditinstituts der Westpreußischen Landschaft erlaubte.

Grabskis Engagement für das Herzogtum Warschau wird durch Ludwik Bąk bestätigt, der in den 1970er Jahren im Pfarrarchiv von Marzdorf ein Conceptbuch des Offzials Dalski einsehen konnte, das heute verschollen ist. In diesem Buch fand Bąk das Konzept zu einem Brief Dalskis vom 6. Juni 1807, in dem der Offizial an einen Major Reinhold in Bromberg berichtete, der »Erbe von Marzdorf, Feliks Grabski« habe 14 Rekruten »für die Wiedergeburt des Vaterlandes«24Bąk, Ziemia Wałecka, a. a. O., S. 18 (Fußnote). entsendet, von denen allerdings sechs wieder entflohen. Ob Grabski – dessen Vorname Bąk falsch las – sich selbst ebenfalls zur Armee meldete, geht aus der Darstellung nicht hervor. Da Grabski aber zwischen 1808 und 1812 in den Quellen nicht erwähnt wird, ist Plewakos Schilderung durchaus möglich, zumal sein jugendliches Alter patriotische Schwärmerei sicher begünstigte.

Im Jahr 1814 heiratete Kalixtus von Grabski mutmaßlich in Tütz Emilie Friederike Wilhelmine (genannt Ernestine) von Hartmann, eine Tochter des preußischen Obrist-Lieutenants Johann Friedrich Ludwig von Hartmann und seiner Ehefrau, einer geborenen Fürstin von Lichnowska, die wohl aus mährisch-schlesischem Adel stammte. Die Familie war seit 180225Von 1802 bis 1810 stritt sich Frau von Hartmann aus Tütz mit dem Agenten Gottschalk Helfft in Berlin um einen Betrag von 20 000 Taler. (M. Kohnke: Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, Band 2, Teil 1, München, 1999, S. 301) und bis mindestens 182926Im Januar 1829 wurde auf Schloss Tütz der Nachlass des Obrist-Lieutnants v. Hartmann, der freilich schon vor 1814 verstorben war, versteigert. (Öffentlicher Anzeiger zum Amtsblatt Marienwerder, 23. Januar 1829, S. 25-26.) Im Deutsch Kroner und Schneidemühler Heimatbrief vom August 1979 heißt es ohne weitere Quellenangabe, die Fürstin Lichnowska geb. Hartmann sei von 1801 bis 1833 im Besitz der Herrschaft Tütz gewesen. (P. Böthin: Geschichtszahlen Neumark-Bitom-Tütz. Deutsch Kroner und Schneidemühler Heimatbrief, August 1979, S. 14.) im Besitz der Herrschaft Tütz.  Nach Plewako war Ernestine von Hartmann »berühmt für ihre Schönheit«, aber weder von ihr noch von Kalixtus von Grabski sind Porträts überliefert, die eine Überprüfung der Aussage erlaubten. Wenig glaubwürdig ist Plewakos Behauptung, bei Ernestine von Hartmann habe es sich um »eine Dame des preußischen Hofes« gehandelt27Plewako a. a. O.. Die Familie, die erst 1803 nobilitiert28L. Freiherr von Ledebour: Adelslexicon der Preußischen Monarchie. Erster Band, A-K, Berlin [1855], S. 322. wurde, findet in den Hof- und Staatskalendern der Zeit keine Erwähnung.

Auf den ersten Blick passt die Heirat mit Ernestine von Hartmann nicht zum Bild Grabskis als eines polnischen Patrioten. Der Vater der Braut war nicht nur preußischer Offizier, sondern auch Protestant und die ganze Familie zeigte eine enge Bindung an den preußischen Staat. Als im Oktober 1806 der Einmarsch von preußischen Freischärlern in Tütz einen Aufruhr auslöste (auf dessen Details hier nicht näher eingegangen werden kann), stellte sich von Hartmann den Aufrührern entgegen und wurde von ihnen »unanständig« gefesselt und für mehrere Tage seiner Freiheit beraubt29H. Seidel, D. Schmidt: Das Reformministerium Stein. Band 3, Berlin 1968, S. 1083.. Im Februar des Hochzeitsjahres 1814 stiftete die verwitwete »Frau Oberstlieutenant von Hartmann, geb. von Lichnowska auf Tütz« zur »Bekleidung bedürftiger [preußischer] Vaterlandsvertheidiger« 22 Paar Socken30Vaterlandsliebe und Wohthätigkeit. Berlinische Nachrichten [Beilage], 31. Mai 1814, S. [1].

Aus der Pfarrchronik von Marzdorf ist bekannt, dass Kalixtus von Grabski die Konfession seiner Ehefrau zumindest akzeptierte und seine Kinder »im Protestantismus erziehen«31Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 9. ließ. Vieles deutet darauf hin, dass er sich nach den Erfahrungen der Kriegsjahre 1808 bis 1813 auch mit dem preußischen Staat arrangiert hatte, der nach dem Sturz Napoleons erneut zur europäischen Großmacht geworden war. So gehörte Grabski am 27. Juli 1815 zu den Mitunterzeichnern einer Petition der Rittergutsbesitzer, Städtevertreter und Rustikalstellenbesitzer des Deutsch Kroner Kreises, die vom preußischen König ein Verbleib des Kreises in der Provinz Westpreußen erbaten32Manfred Laubert: Studien zur Geschichte der Provinz Posen, 2. Band, Posen 1927, S. 31f. – Weitere Unterzeichner waren Landrat v. Germar und die Rittergutsbesitzer v. Arnim, v. Falkenhayn, v. Belville, v. Blankenburg, Kegel, und Krause, die in der Petition betonten, sie seien nach »Herzen und Gesinnung preußisch und deutsch«..

Bei der Heirat zählte Grabski 29 Jahre und war der erste Grundherr seit langer Zeit, der auf dem Marzdorfer Besitz auch seinen Wohnsitz nahm33Nach der Pfarrchronik hatte vor ihm nur seine Großmutter, Franciszka Krzycka, ab 1766 einige Jahre im Dorf gelebt. Ebenda., S. 8.. Hier zeigte er bald eine tatkräftige Wirksamkeit: Im Jahre 1817 zahlte er 2 856 Taler Pfandbriefschulden zurück, die noch vom Krieg her auf dem Gut lasteten.34Acta betr. das auf dem Grabskyschen Gute Marxdorff eingetragene Kapital. In: GStA PK, Signatur I. HA, Rep. 151, Nr. 2476. Im Jahr 1818 stiftete er zwei neue Dorfschulen in Lubsdorf und Brunk, wo bislang keine bestanden hatten, 1819 ließ er die Schule in Marzdorf renovieren und erweitern 35T. Soorholtz: Aus der Schulgeschichte von Marzdorf und Königsgnade. Das Archiv, Heft 2, Juni 2008, S. 1., 1825 veranlasste er die Instandsetzung und Erweiterung der Lubsdorfer Filialkirche Sankt Michael, die 1829 vom Offizial Antonius Perzyński neu konsekriert wurde36J. Korytkowski: Brevis descriptio etc., Gnesen 1888, S. 243..

[→ wird fortgesetzt]

Friedrich August von Sachsen war zugleich Herzog von Warschau. Hier ein Golddukat von 1812.

Anmerkungen:

  • 1
    K. Hunger: Geschichte des Dorfs Brunk. Semesterarbeit, Beuthen 1936, S. 45.
  • 2
    L. Bąk: Ziemia Wałecka w dobie reformacji i kontrreformacji w XVI–XVIII w. [Reformation und Gegenreformation im Deutsch Kroner Land vom 16. bis 18. Jahrhundert]. Piła 1999, S. 18.
  • 3
    Immatrikulation der Brüder v. Grabski am 14.05.1803. In: Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Matrikelbücher 1791-1806, Signatur UAHW, Rep. 46, Nr. 7.
  • 4
    Dienstbrief für den Schullehrer Johann Neumann vom 17.07.1822, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin, Signatur HA XIV, Rep. 181, Nr. 8839, Seite 142.
  • 5
    Königl. Preußische Regierung zu Marienwerder: Acta das Hospital in Martzdorff betreffend. LDS-Film 008464556, S. 265.
  • 6
    Brief Grabskis an Friedrich-Wilhelm III., König von Preußen vom 3.04.1832, in: GStA PK, Signatur I. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 67 (Rückseite).
  • 7
    Neuer Nekrolog der Deutschen. [Hrsg.: Bernhard Friedrich Voigt], 13. Jahrgang: 1835, Zweyter Theil, Weimar (Voigt) 1837, S. 1217.
  • 8
    So bei S. J. Plewako: Kalikst Józef Maksymilian z Grabu Grabski. Internetadresse: http://www.grabski.plewako.pl/. Dieser Webseite wurden auch die genealogischen Angaben entnommen, die jedoch auch an anderer Stelle (z.B. https://www.sejm-wielki.pl/) zu finden sind. Plewako ist ein direkter Nachfahr von Kalixtus von Grabski.
  • 9
    Die Fronleichnamkirche in Poznań (Posen). In: Region Wielkopolska, Internetadresse: https://regionwielkopolska.pl/de/katalog-obiektow/kosciol-pw-bozego-ciala-w-poznaniu/
  • 10
    E. Żerniecki-Szeliga: Geschichte des Polnischen Adels. Hamburg 1905, S. (A) 44.
  • 11
    E. J. Krefft: Aus der Pfarrchronik von Marzdorf. In: Das Archiv, Nr. 6, August 2020. S. 8.
  • 12
    Immatrikulation der Brüder v. Grabski …, a. a. O.
  • 13
    Ebenda.
  • 14
    Plewako a. a. O.
  • 15
    Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 8.
  • 16
    E. H. Nejman: Wypisy z aktów notariuszy szadkowskich 1809-1873 [Auszüge aus den Urkunden der Notare von Szadków]. Zduńska Wola 2014, S. 18.
  • 17
    Karte von dem zum hochadelichen Gute Marzdorff gehörigen Dorfe Brunk Sr. Hochwohlgeboren dem Herrn v. Grabski zugehörig, auf Verlangen Sr. Hochwohlgeboren des Herrn v. Wiganowski vermessen im Jahr 1805. Fundort der Quelle: Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/55/0/-/7784.
  • 18
    Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 8.
  • 19
    Onuphrius von Grabski hatte bereits 1806 Anna Brzeska geheiratet, im Jahr 1810 heiratete er in zweiter Ehe Otolia Gorzeńska (* 1790; † 1862). Im Herbst 1821 gehörte er zu den Mitbegründern der Posener Landschaft (siehe: Landschaftliche Kredit-Ordnung für das Großherzogtum Posen. Vom 15ten Dezember 1821. In: Gesetzessammlung für die Königlichen preußischen Staaten, Nr. 20, 1821, Berlin o. J., S. 218-263.) Er starb am 20. Oktober 1827 in Lgów (deutsch: Lugfeld) bei Jarotschin.
  • 20
    Königl. Preußische Regierung Marienwerder: Acta die Schul Tabellen aus der Posenschen Diöcese betreffend [1808], in: LDS-Film 008106931.
  • 21
    Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 8.
  • 22
    Brief Grabskis an Friedrich Wilhelm III. vom 3. April 1832. In: Königliches Civil-Kabinet: Reclamationen des Gutsbesitzers von Grabski, GStA PK, 1. HA, Rep. 89, Nr. 30899, Blatt 64.
  • 23
    Ebenda.
  • 24
    Bąk, Ziemia Wałecka, a. a. O., S. 18 (Fußnote).
  • 25
    Von 1802 bis 1810 stritt sich Frau von Hartmann aus Tütz mit dem Agenten Gottschalk Helfft in Berlin um einen Betrag von 20 000 Taler. (M. Kohnke: Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, Band 2, Teil 1, München, 1999, S. 301)
  • 26
    Im Januar 1829 wurde auf Schloss Tütz der Nachlass des Obrist-Lieutnants v. Hartmann, der freilich schon vor 1814 verstorben war, versteigert. (Öffentlicher Anzeiger zum Amtsblatt Marienwerder, 23. Januar 1829, S. 25-26.) Im Deutsch Kroner und Schneidemühler Heimatbrief vom August 1979 heißt es ohne weitere Quellenangabe, die Fürstin Lichnowska geb. Hartmann sei von 1801 bis 1833 im Besitz der Herrschaft Tütz gewesen. (P. Böthin: Geschichtszahlen Neumark-Bitom-Tütz. Deutsch Kroner und Schneidemühler Heimatbrief, August 1979, S. 14.)
  • 27
    Plewako a. a. O.
  • 28
    L. Freiherr von Ledebour: Adelslexicon der Preußischen Monarchie. Erster Band, A-K, Berlin [1855], S. 322.
  • 29
    H. Seidel, D. Schmidt: Das Reformministerium Stein. Band 3, Berlin 1968, S. 1083.
  • 30
    Vaterlandsliebe und Wohthätigkeit. Berlinische Nachrichten [Beilage], 31. Mai 1814, S. [1]
  • 31
    Krefft, Pfarrchronik, a. a. O., S. 9.
  • 32
    Manfred Laubert: Studien zur Geschichte der Provinz Posen, 2. Band, Posen 1927, S. 31f. – Weitere Unterzeichner waren Landrat v. Germar und die Rittergutsbesitzer v. Arnim, v. Falkenhayn, v. Belville, v. Blankenburg, Kegel, und Krause, die in der Petition betonten, sie seien nach »Herzen und Gesinnung preußisch und deutsch«.
  • 33
    Nach der Pfarrchronik hatte vor ihm nur seine Großmutter, Franciszka Krzycka, ab 1766 einige Jahre im Dorf gelebt. Ebenda., S. 8.
  • 34
    Acta betr. das auf dem Grabskyschen Gute Marxdorff eingetragene Kapital. In: GStA PK, Signatur I. HA, Rep. 151, Nr. 2476.
  • 35
    T. Soorholtz: Aus der Schulgeschichte von Marzdorf und Königsgnade. Das Archiv, Heft 2, Juni 2008, S. 1.
  • 36
    J. Korytkowski: Brevis descriptio etc., Gnesen 1888, S. 243.

St. Katharina und Marzdorf

Die Marzdorfer Pfarrkirche St. Katharina gehört zu den ältesten im Deutsch Kroner Land. Die heutige Kirche erbaute der Tützer Grundherr Christoph von Wedell im Jahre 1627; der Posener Bischof Adalbert Tholibowski konsekrierte sie 16601Geschichte der katholischen Kirchengemeinde Marzdorf auf der Webseite der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Familienforscher (AgOFf).. Mehrere Anbauten sind bekannt, so wurde die Kirche im Jahr 1910 durch eine Küsterei erweitert2Patronatslasten Marzdorf, Aufstellung in Acta der Königlich Preuss. Regierung in Marienwerder betreffend die Bauten bei der Schule in Königsgnade, Kreis Dt. Krone – 1887-1936, Archiwum Państwowe w Poznaniu Oddział w Pile, Signatur: 55/907/0/2.1.2.3/4585, unpaginiert..

Die heutige Kirche hatte gewiss mehrere Vorgängerbauten, denn bereits im Neumärkischen Landbuch von 1337 wird von einer »sehr alten Kirche« im damaligen Martinsdorp gesprochen und dem Ortspfarrer waren vier der 64 Hufen des Ortes zugeteilt3Georg Wilhelm von Raumer: Die Neumark Brandenburg im Jahre 1337, Berlin 1837, S. 105.. Ob auch die früheren Kirchenbauten der Heiligen Katharina geweiht waren, ist ungewiss, aber nach den Erkenntnissen der Kulturwissenschaftlerin Dagmar Jestrzemski sehr wahrscheinlich. Jastrzemski hat erforscht, dass das Stormaner Rittergeschlecht der von Wedel bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Heilige Katharina aus Alexandrien zur Familienpatronin erwählte. Das sogenannte Katharinenrad – eigentlich ein Richtrad – findet sich seit dieser Zeit in Wappen und Siegel der Familie4Dagmar Jestrzemski: Katharina von Alexandrien. Die Kreuzritter und ihre Heilige, Berlin (Lukas) 2010..

Siegel des Hinricus de Wedele um 1322 (Bildquelle: Wikipedia)

Als die Familie von Wedel 1268 Ländereien jenseits der Oder im Grenzgebiet zwischen Pommern, Brandenburg und Polen erwarb, führte sie die Heilige Katharina mit. Schon im Jahr 1296 wird in Reetz eine spätgotische Katharinenkirche erwähnt, im Jahr 1350 errichtete Hasso der Rote von Wedel in Dramburg eine Kapelle mit Katharinenaltar5Ebenda, S. 54.. Auch das Wappen der Stadt Tütz, die 1333 ein Privileg der Brüder Stanislaus und Christoph von Wedel erhielt, zeigte bis 1945 eine blaugewandete Katharinenfigur mit zwei roten Rädern. Im heutigen Wappen der Stadt Tuczno sind beide Richträder erhalten geblieben, die heilige Katharina musste jedoch einem stilisierten Ritterhelm weichen.

Wappen von Tütz vor und nach 1945. (Bildquelle: Wikipedia)

Aus den Kirchenbüchern von Marzdorf sind drei Siegel bekannt, die ein Bildnis der heiligen Katharina zeigen. Das erste Siegel in lateinischer Sprache findet sich bis 1863 als Stempel im Kirchenbuch-Duplikat. Es hat die Umschrift »SIGILUM ECCLESIÆ MARCIN∙COVIENSIS ✶ SUB TIT. S: CATHARINÆ« und zeigt eine Katharinenfigur mit Richtrad und Palmzweig.

Siegel des Marzdorfer Pfarrers Katzer aus dem Jahr 1863.

Das zweite Siegel in deutscher Sprache wurde ab 1864 verwendet. Es zeigt das Bild der heiligen Katharina umgeben vom Schriftzug: »SIEGEL DER MUTTER-KIRCHE ZU MARZDORF UNTER D. TITEL S. CATHARINÆ« und das Jahresdatum »1839«. Es ist ungewiss, was diese Jahreszahl zu besagen hatte. Vermutlich sollte sie an den ersten »Kirchenkampf« in Preußen erinnern, denn im Februar 1839 wurde der Posener Erzbischof Martin von Dunin seines Amtes suspendiert und zu einer Haftstrafe verurteilt. Die stilisierte Katharinenfigur auf dem Siegel wird bekrönt mit Richtrad und Zweig dargestellt.

Siegel des Marzdorfer Pfarrers Steinke im Jahr 1865.

Das dritte Siegel benutzte Pfarrer Rehbronn im Jahr 1933 als Stempel. Es zeigt ebenfalls eine bekrönte Katharinenfigur mit Richtrad und Palmzweig mit der Umschrift »SIEGEL DER MUTTERKIRCHE ZU MARZDORF UNTER D. TITEL S. CATHARINÆ«. Die Jahreszahl 1839 fehlt jedoch.

Die Heilige Katharina von Alexandrien gehört zu den bekanntesten Heiligen der christlichen Kirche. Nach der Heiligenlegende, die im 7. Jahrhundert entstand, war Katharina eine Königstochter, die um 300 in Alexandria lebte und von einem Einsiedler zum Christentum bekehrt wurde. Weil Katharina große Überzeugungskraft besaß, soll sie vom römischen Kaiser Maxentius (oder Maximinus oder Maximianus) zum Tod durch das Rädern verurteilt worden sein. Durch ein Gebet der Heiligen zerbrachen jedoch die Richträder während der Hinrichtung. Katharina soll daraufhin enthauptet worden sein.6Siehe zur Heiligenlegende auch https://bistum-augsburg.de/Heilige-des-Tages/Heilige/KATHARINA-VON-ALEXANDRIEN.

Nach dem heutigen Forschungsstand ist die Heilige Katharina höchst wahrscheinlich eine erfundene Figur, die auf einer klassischen Täter-Opfer-Verkehrung beruht. Vorbild für die Heiligenlegende war offenbar die griechische Mathematikerin Hypathia von Alexandria (ca. 355–415/416), die am Museion ihrer Vaterstadt auch Astronomie und Philosophie unterrichtete. Hypathia wurde von Angehörigen einer militanten christlichen Laienbruderschaft ermordet, ihre Leiche dann zerstückelt und verbrannt.7Jestrzemski, a. a. O., S. 89.

Da es keine Belege für die tatsächliche Existenz der Heiligen Katharina gibt, wurde ihr Gedenktag 1969 aus dem katholischen Calendarium Romanum Generale gestrichen, aber 2002 wieder aufgenommen. Der Gedenktag ist der 25. November.

Anmerkungen:

  • 1
    Geschichte der katholischen Kirchengemeinde Marzdorf auf der Webseite der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Familienforscher (AgOFf).
  • 2
    Patronatslasten Marzdorf, Aufstellung in Acta der Königlich Preuss. Regierung in Marienwerder betreffend die Bauten bei der Schule in Königsgnade, Kreis Dt. Krone – 1887-1936, Archiwum Państwowe w Poznaniu Oddział w Pile, Signatur: 55/907/0/2.1.2.3/4585, unpaginiert.
  • 3
    Georg Wilhelm von Raumer: Die Neumark Brandenburg im Jahre 1337, Berlin 1837, S. 105.
  • 4
    Dagmar Jestrzemski: Katharina von Alexandrien. Die Kreuzritter und ihre Heilige, Berlin (Lukas) 2010.
  • 5
    Ebenda, S. 54.
  • 6
  • 7
    Jestrzemski, a. a. O., S. 89.

Die Schulzen

Dienstsiegel des Schulzenamts Königsgnade

An der Spitze der Landgemeinden im Deutsch Kroner Land stand traditionell ein Schulze, der als Mittelsmann zwischen Dorfbevölkerung und Gutsherrschaft fungierte. In der polnischen Zeit wurden die Pflichten und Rechte der Schulzen in individuell formulierten Privilegien festgelegt, die auf Lebenszeit galten und an Nachkommen vererbt werden konnten. Es sind aus jener Zeit zwei Schulzenprivilegien1Beide Privilegien befinden sich in den Klassifikationsanschlägen des Amtes Märkisch Friedland, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur II. HA GD, Abt. 9, Polizeiverwaltung Tit. 85, Nr. 7 verwahrt werden und nun auch online zugänglich sind. überliefert: Das für Christoph Boczanski auf dem Lubsdorfer Schulzengut Lubshof aus dem Jahr 17232Privileg in deutscher Sprache ausgestellt von Marianna von Tuczynska Radonska, a. a. O., Blatt 193 ff. und das für den Brunker Schulzen Jakob Polcyn aus dem Jahr 17663Privileg in polnischer Sprache ausgestellt von Antoni z. Krzycka Krzycki, a. a. O., Blatt 18 ff.. Beide Privilegien beinhalten lokale Ordnungsfunktionen und verpflichten die Schulzen zur bewaffneten Grenzverteidigung, unterscheiden sich sonst aber deutlich. Während der Brunker Schulze Polcyn die Bewirtschaftung des herrschaftlichen Guts und die Ablieferung von Steuern und Abgaben zu überwachen hatte, konnte Boczanski mehr oder minder frei wirtschaften, denn für Verwaltungsaufgaben war im Dorf ein zusätzlicher Lehnschulze eingesetzt.

Jacob Poltzin wird auch im preußischen Kontributionskataster des Jahres 1773 noch als »Frey Schultz« in Brunk mit einer Hufe und sechs Morgen Land aufgeführt4A. a. O., Blatt 17.. In Lubsdorf gab es zu jener Zeit jedoch keinen Schulzen mehr, denn das frühere Schulzengut war aufgeteilt in den Besitz des »Arendators« Casimir Schulz und vier Kossätenhöfe5A. a. O., Blatt 190.. In Marzdorf wird der Zinsbauer Paul Koltermann als Schulze benannt6A. a. O., Blatt 245., dessen Witwe 1825 in Königsgnade verstarb.

Ab dem Jahr 1794 diente in Preußen das Allgemeine Landrecht, das den Schulzen zum »Vorsteher der Gemeinde« bestimmte, als zusätzliche Regelungsgrundlage7Das Allgemeine Landrecht ist online über opinioiuris.de verfügbar. Die Stellung des Schulzen wird behandelt in Teil II, Titel VII, §§ 46 ff.. War der Schulze bislang nur der Gutsherrschaft verpflichtet gewesen, machte ihn der Staat nun auch zum Mittler zwischen Staat und Dorfgemeinde, denn das Landrecht wies ihm die Aufgabe zu, der Gemeinde die »landesherrlichen und obrigkeitlichen Verfügungen bekannt machen« und für deren Befolgung zu sorgen. Der Schulze war jetzt für die Einhaltung der Polizeiordnung und die Beaufsichtigung von öffentlichen Arbeiten verantwortlich; er sollte Viehseuchen melden, verdächtige Personen den Behörden ausliefern und die staatlichen Steuern eintreiben. Gemeinsam mit zwei Schöffen stand der Schulze dem Dorfgericht vor und war für die Verwaltung des Vermögens der Gemeinde zuständig.

Die geltenden Privilegien blieben auch nach dem Jahr 1794 bestehen, denn das Landrecht erkannte die Verbindung von Schulzengut und -amt grundsätzlich an. War im Dorf kein erbliches Schulzengut vorhanden, hatte der Gutsherr das Recht, aus den Einwohnern der Gemeinde einen Schulzen zu ernennen. Der ernannte Schulze musste »des Lesens und Schreibens notdürftig kundig« und zudem »von untadelhaften Sitten« sein.

Da mehrere Ansätze zur Einführung einer Landgemeindeordnung scheiterten, blieben die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts, die das Schulzenamt betrafen, in Preußen bis 1873 gültig. Erst die Kreisordnung vom 13. Dezember 1872 löste das Amt des Dorfschulzen aus der Abhängigkeit von der Gutsherrschaft und schaffte das erbliche Freischulzenamt ab. Erstmalig war es den Dorfgemeinden nun erlaubt, ihre Vorsteher selbst zu wählen. Bis zum Erlass der Landgemeindeordnung im Jahr 1891 gab es freilich keine eindeutige Wahlordnung für diese Abstimmungen und bis zum Ende des preußischen Staats war der gewählte Schulze auf die Bestätigung durch den Landrat angewiesen.

Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen preußischen Landrat und Dorfschulzen hat die Historikerin Anette Schlimm im Jahr 20178Anette Schlimm: Vom unwilligen, unfähigen Schulzen zum kompetenten Bürgermeister? in: Administory, Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 2017, S. 207 bis 229. https://doi.org/10.2478/ADHI-2018-0022. untersucht. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Dorfschulzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Abhängigkeit der Landräte gerieten, die zunehmend »die Hoheit über der ländlichen Raum«9Ebenda, S. 220. eroberten. Von den Landräten wurden die ehrenamtlichen Dorfvorsteher einerseits mit Arbeiten überhäuft und andererseits als Sündenböcke für gescheiterte Verwaltungsmaßnahmen missbraucht. Klagen über unwillige und uneinsichtige Schulzen gehörten zum Standardrepertoire der preußischen Landräte, welche die Dorfvorsteher wie Untergebene behandelten und das Recht hatten, sie bei Unbotmäßigkeit zu strafen.

Die Akten der Schulzenämter in Brunk, Königsgnade, Lubsdorf und Marzdorf wurden nach 1945 vernichtet; die überlieferten Kirchenbücher, Kreiskalender und einzelne Verwaltungsakten erlauben es aber, einige der Personen zu nennen, die zwischen 1772 und 1945 die Funktion des Dorfverstehers ausübten.

Das Freischulzenamt in Brunk wurde von 1784 bis mindestens 1837 von Mathias Storch ausgefüllt, der die Witwe des Freischulzen Jacob Polzin geheiratet hatte. Im Jahr 1848 übernahm Lorenz Jaene den Freischulzenhof in Brunk; nach seinem Tod im Jahr 1871 fiel das Amt an dessen Sohn Paul10Siehe dazu auch Karl Hunger: Geschichte und Volkskunde des Dorfes Brunk im Kreis Deutsch Krone, Köln 2021, S. 42 ff.. Im Jahr 1915 und 1920 hieß der Gemeindevorsteher laut Heimatkalender Tetzlaff, 1936 war es der Bauer Paul Koltermann.

In Königsgnade hieß der erste Schulze Martin Schulz; er amtierte von mindestens 1824 bis mindestens zur Separation 1841 und war zu der Zeit der einzige Eigentümer im Dorf, der seinen Namen schreiben konnte11Das Grundsteuerkastaster von Königsgnade aus dem Jahr 1841 findet sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter Signatur HA XIV, Rep. 181, Abt. III, Sign. 9729.. Als Gerichtsmann (Schöffe) wird im Schulrezess von 1824 Johann Remer genannt12Die Schulakten von Königsgnade bis 1832 finden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter Signatur HA XIV, Rep. 181, Abt. III, Sign. 8839.. In den Kirchenbuch-Duplikaten von Marzdorf13Die Duplikate der Kirchenbücher der katholischen Pfarre Sankt Katharina in Marzdorf, die im Archiwum Państwowe in Koszalin verwahrt werden, liegen inzwischen online auf metryki.genbaza.pl vor.sind die folgenden Schulzen namentlich aufgeführt:

1844Stephan Robeck
1849, 1852 und 1859Johann Garske
1854, 1856, 1857, 1860Jacob Günterberg
1888Josef Robeck
Erwähnung der Königsgnader Schulzen in den Kirchenbuch-Duplikaten von Marzdorf.

Robeck wird auch von 1902 bis 1910 in den Schulakten14Die Schulakten von Königsgnade ab 1855 finden sich im Archiwum Państwowe w Poznaniu Oddział w Pile unter den Signaturen 55/907/0/2.1.2.3/4585 bis 4588., sowie 1915 im Heimatkalender als Dorfschulze benannt. Im folgt 1921 und 1923 ein Schulze Neumann, dessen Vorname unbekannt ist. Von 1924 bis 1930 war Albert Günterberg Gemeindevorsteher in Königsgnade. Er setzte den Bau der neuen Schule im Dorf durch, die freilich erst in der Amtszeit seines Nachfolgers, Max Ziebarth, vollendet wurde. Ziebarth war bis 1945 Gemeindevorsteher in Königsgnade; seit dem Erlass der Deutschen Gemeindeordnung im Jahr 1935 trug er den Titel »Bürgermeister«. Das Schöffenamt übten 1927 Albert Remer und Paul Ziebarth aus, ab 1930 Paul Ziebarth und Gregor Garske.

Für Lubsdorf werden in den Kirchenbuch-Duplikaten die nachfolgenden Freischulzen genannt:

1824Joseph Schulz [† 11.12.1824]
1828, 1830, 1832, 1835 und 1847Andreas Schulz
1853, 1856 und 1857Christian Buske
Erwähnung der Lubsdorfer Schulzen in den Kirchenbuch-Duplikaten von Marzdorf.

Andreas Schulz starb vermutlich 1848 und Christian Buske erwarb das Freischulzenamt durch die Hochzeit mit dessen hinterbliebenen 18-jähriger Tochter Rosalia am 14. September 1849. Im Heimatkalender 1920 wird als Gemeindevorsteher von Lubsdorf ein Herr Manthey (leider ohne Vorname) benannt; im Jahr 1936 hatte das Amt der Bauer Josef Manthey inne, der auch noch 1942 als »Bürgermeister« der Gemeinde im Reichstelefonbuch steht.

In Marzdorf wurde das Schulzenamt schon vor 1811 erblich an die Familie Morowski vergeben. Der erste Freischulze war vermutlich Lorenz Morowski, der am 10. Januar 1857 im Alter von 75 Jahren in Marzdorf verstarb. Das Freischulzenamt erbte sein Sohn Joseph Morowski, der es bis zu seinem Tod am 28. Februar 1870 ausübte. Im Jahr 1901 hieß der Gemeindevorsteher in Marzdorf Rudolf Morowski, der das Amt auch 1915 noch ausübte. Im Jahr 1912 wurde ihm für seine Dienste als Gemeindevorsteher vom Kaiser das Allgemeine Ehrenzeichen verliehen. 1936 wird im Heimatkalender hingegen der Bauer Felix Schulz genannt.

Das am Kopf gezeigte Siegel des Schulzenamtes in Deutsch Krone wurde von mindestens 1856 bis Jahr 1930 von der Gemeinde genutzt. Max Ziebarth ersetzte es dann durch das modernere untenstehende Dienstsiegel.

Siegel des Gemeindevorstehers von Königsgnade
Siegel des Gemeindevorstehers von Königsgnade ab 1930

Anmerkungen:

  • 1
    Beide Privilegien befinden sich in den Klassifikationsanschlägen des Amtes Märkisch Friedland, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur II. HA GD, Abt. 9, Polizeiverwaltung Tit. 85, Nr. 7 verwahrt werden und nun auch online zugänglich sind.
  • 2
    Privileg in deutscher Sprache ausgestellt von Marianna von Tuczynska Radonska, a. a. O., Blatt 193 ff.
  • 3
    Privileg in polnischer Sprache ausgestellt von Antoni z. Krzycka Krzycki, a. a. O., Blatt 18 ff.
  • 4
    A. a. O., Blatt 17.
  • 5
    A. a. O., Blatt 190.
  • 6
    A. a. O., Blatt 245.
  • 7
    Das Allgemeine Landrecht ist online über opinioiuris.de verfügbar. Die Stellung des Schulzen wird behandelt in Teil II, Titel VII, §§ 46 ff.
  • 8
    Anette Schlimm: Vom unwilligen, unfähigen Schulzen zum kompetenten Bürgermeister? in: Administory, Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 2017, S. 207 bis 229. https://doi.org/10.2478/ADHI-2018-0022.
  • 9
    Ebenda, S. 220.
  • 10
    Siehe dazu auch Karl Hunger: Geschichte und Volkskunde des Dorfes Brunk im Kreis Deutsch Krone, Köln 2021, S. 42 ff.
  • 11
    Das Grundsteuerkastaster von Königsgnade aus dem Jahr 1841 findet sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter Signatur HA XIV, Rep. 181, Abt. III, Sign. 9729.
  • 12
    Die Schulakten von Königsgnade bis 1832 finden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter Signatur HA XIV, Rep. 181, Abt. III, Sign. 8839.
  • 13
    Die Duplikate der Kirchenbücher der katholischen Pfarre Sankt Katharina in Marzdorf, die im Archiwum Państwowe in Koszalin verwahrt werden, liegen inzwischen online auf metryki.genbaza.pl vor.
  • 14
    Die Schulakten von Königsgnade ab 1855 finden sich im Archiwum Państwowe w Poznaniu Oddział w Pile unter den Signaturen 55/907/0/2.1.2.3/4585 bis 4588.

Czesław Piskorski und Marzdorf

Jantarowe Szlaki

Im Januar 1980 veröffentlichte Czesław Piskorski in der Zeitschrift Jantarowe Szlaki1Czesław Piskorski: Marcinkowice – jedna z siedzib rodu Wedlów-Tuczyńskich (Marzdorf – einer der Sitze der Familie Wedel-Tuczyński). In: Jantarowe Szlaki, Kwartalnik Turystiyczno-Krajonznawczy, Województw Północnych, Rok XXIII, Nr. 1 (175), Styczeń-Marzec 1980, S. 33 bis 37. eine umfangreiche Reportage über das Dorf »Marcinkowice in der Woiwodschaft Piła« – es handelt sich dabei um Marzdorf, dessen früherer Name freilich nirgends erwähnt wird. Jantarowe Szlaki (zu deutsch: Bernsteinpfade) war zu jener Zeit das viel gelesene Organ des polnischen Tourismusverbandes PTTK und Piskorski (1915–1987) ein angesehener Reisebuchautor. Das touristische Interesse am kleinen Dorf Marcinkowice mag heute verwundern, aber in den 1980er Jahren waren reiselustige Polen zwangsläufig auf das eigene Land beschränkt und die Region um Tuczno (Tütz) galt als beliebtes Urlaubsziel.

Lagekarte von Marzdorf in Jantarowe Szlaki, Nr. 1, 1980 S. 33.

Auch in Marcinkowice sah Piskorski einen »recht wichtigen Ort für die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten«, denn der Dorf habe als »Sitz der Familie Wedel-Tuczynski« mehrere Punkte zu bieten, »die für Touristen zweifellos von Interesse sind« und sei zudem ein guter Ausgangspunkte für Ausflüge in die Umgebung.

Zu den Punkten, die in Marzdorf Interesse verdienen, zählten seiner Meinung nach die »wertvolle Kirche in der Dorfmitte« und der Gebäudekomplex des staatlichen Landwirtschaftsbetriebs (PGR), in dem Reste des ehemaligen »Herrenhauses und des angrenzenden Parks« zu finden sind. Das Herrenhaus sei jedoch im Jahre 1957 abgebrannt und heute nur »ein sehr bescheidenes einstöckiges Gebäude«.

Piskorski nennt das früherer Marzdorfer Gutshaus ein »Dworek Wedlów«, denn er ist irrtümlich der Ansicht, die Tützer Familie Wedel habe in Marzdorf »residiert«, nachdem im »18. Jahrhundert die Burg in Tuczno zerstört« wurde. Solche Äußerungen zeigen, wie wenig vertraut die polnischer Historiker noch in der 1980er Jahren mit der Geschichte des Deutsch Kroner Landes waren. Natürlich war Marzdorf nie eine Residenz der Tützer Wedels, die bereits 1714 im Mannesstamm ausstarben, und natürlich wurde das Tützer Schloss erst 1945 zerstört. Das Marzdorfer Gutshaus ist auch vielmehr ein Dworek Gropius als ein Dworek Wedlów, denn die heute noch erkennbare Form hat es erst seit einem Umbau durch den Berliner Architekten Walter Gropius im Jahr 1867.

Dem Gutshaus, so Pisorski weiter, schließe sich »von Norden her ein vierstöckiges, recht großes Nebengebäude in Fachwerkbauweise« an. Auf dem Plan, der den Artikel illustriert, sind das Herrenhaus und sein Nebengebäude mit den Nummern 1 und 2 bezeichnet, die Nummer 3 kennzeichnet die frühere Gutsschmiede, die Nummer 4 ein Lagerhaus und die Nummern 5 und 6 Wirtschaftsgebäude. Die ganze, teilweise aus Bruchstein errichtete Anlage stellt für Pisorski einen typischen Junkerhof des 19. Jahrhundert dar. Erstaunlich ist, dass die Gutsbrennerei, die bis heute erhalten ist, im Artikel mit keinem Wort erwähnt wird. Ebenso wenig erwähnt Pisorski die Eigentümer des Guts von 1760 bis 1945 – die Familien Krzycki, Grabski, Kloer und vor allem Guenther.

Abbildung des Marzdorfer »Junkerhofs« in Jantarowe Szlaki, Nr. 1, 1980 S. 34

Im Jahre 1980 wurden die Gebäude des Marzdorfer Guts noch von dem »schnell wachsenden staatlichen Landwirtschaftsbetrieb« genutzt. Im Herrenhaus war ein Teil der Verwaltung der PGR untergebracht, die für ihre »hohen Leistungen sowohl im Ackerbau als auch in der Viehzucht« bekannt sei. Als Viehstand des Betriebes nennt Pisorski etwa 3.000 Rinder und fast 2.000 Schafe. Im früheren Gutspark, in dem sich »sowohl einheimische als auch exotische Bäume und Sträucher« finden, wurden Wildenten und Fasane gehalten.

Besonders viel Raum widmet Pisorski der Dorfkirche St. Katharina. Es handele sich um eine einschiffige Kirche »im Renaissancestil« mit einem massiven vierstöckigen Turm und Walmdach. Im Rundturm an der Nordseite sei noch ein »Fragment« der ursprünglich gotischen Backsteinkirche aus dem 14. Jahrhundert zu erkennen, die von Andreas Wedel-Tuczynski im 17. Jahrhundert umgebaut wurde. Noch später seien an den Seiten »zwei Vorhallen und eine Sakristei« angebaut wurden. Die Kirche sei nicht verputzt, so dass die Ziegelsteine sichtbar sind; sie weise zudem die für die Gotik charakteristischen Strebepfeiler auf und sei von einer historischen Steinmauer umgeben.

Im Inneren der Kirche findet Pisorski den Hauptaltar »sehr wertvoll«. Dieser sei ein Werk der Danziger Schule mit der Darstellung der Jungfrau Maria. Das Altarbild wurde um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert vom Maler Hermann Hahn geschaffen und gelte als eines der wichtigsten Kunstwerke dieser Zeit in Polen. Ursprünglich sei das Gemälde mit einem silbernen Kleid mit Krone und Ohrringen geschmückt gewesen, aber Konservatoren hätten diese Beigaben während der Renovierung entfernt.

»Sehr wertvoll« – das Marzdorfer Altarbild auf einem Foto von 2022.

Bemerkenswert findet Pisorski auch die zwölf Metallkugeln in der Kirche, von denen je sechs über dem Eingang zur Sakristei und über dem Haupteingang kreuzförmig angebracht sind. Bekannt stammen die Kugeln aus der Schlacht von Stuhm (1629) als Polen und Deutsche gemeinsam gegen die Schweden kämpften; Pisorski ordnet sie jedoch fehlerhaft der Schlacht bei Marienburg (1410) zu, die Polen gegen die Deutschordensritter bestritt. Früher habe es eine lateinische Inschrift zu den Kugeln gegeben, bemerkt Pisorski, aber diese sei verschwunden.

Interessant sind auch die weiteren Informationen, die Pisorski zum Dorf Marcinkowice gibt. Zwar fehlt bei ihm eine Angabe der Einwohnerzahl im Jahr 1980, aber wir erfahren, dass im Dorf zwei Lebensmittelgeschäfte bestanden und in der PGR ein Gemeinschaftsraum und eine Bibliothek mit Lesesaal vorhanden war. Es gebe im Dorf jedoch weder eine Gaststätte noch ein Restaurant, »obwohl das sehr nützlich wäre«. Auf einer zweiten Karte sind das Klubhaus mit der Kindertagesstätte (1), die Bibliothek (2), die Barock-Bildsäule des Heiligen Sebastian (3), ein Kindergarten (4), die neue und die alte Schule (5), die Direktion der PGR (6) und die Bildsäule des Heiligen Johann Nepomuk (7) eingezeichnet. Die beiden Bildsäulen datiert Pisorski auf das Jahr 1775 und gibt an, sie seien 1875 renoviert worden. Auf dem Plan ist ebenfalls die Bushaltestelle der PKS eingezeichnet, die das Dorf mit Tütz und Märkisch Friedland verband. In Tütz hatten die Touristen Anschluss an die staatlichen Eisenbahnlinien der PKP.

Ortsplan von Marzdorf in Jantarowe Szlaki, Nr. 1, 1980 S. 34. Der evangelische Friedhof ist ebenfalls eingezeichnet

In der Umgebung von Marzdorf findet Pisorski vor allem den Großen Böthinsee interessant, der sechs Kilometer östlich des Dorfes liegt. Dieser See sei nicht nur schön, sondern auch bei Anglern sehr geschätzt; zudem seien in der Nähe des Dorfes Böthin die Überreste einer frühmittelalterlichen slawischen Festung zu finden, die im Jahr 1107 von Bolesław Krzywousty zerstört wurde. Ein Wall mit einem Umfang von 150 Metern sei von der Festung erhalten geblieben.

Anmerkungen:

  • 1
    Czesław Piskorski: Marcinkowice – jedna z siedzib rodu Wedlów-Tuczyńskich (Marzdorf – einer der Sitze der Familie Wedel-Tuczyński). In: Jantarowe Szlaki, Kwartalnik Turystiyczno-Krajonznawczy, Województw Północnych, Rok XXIII, Nr. 1 (175), Styczeń-Marzec 1980, S. 33 bis 37.

Häusler, Bauern und Kossäten

Archiv 10

Die Artikelfolge zu den Kirchenbuch-Duplikaten von Marzdorf, die im Dezember an dieser Stelle veröffentlicht wurde, ist mittlerweile – leicht überarbeitet – als Nummer 10 des Archivs erschienen und kann hier heruntergeladen werden. In dem Heft wird versucht, die demografischen und sozialen Entwicklungen in der Pfarre Marzdorf zwischen 1823 und 1874 nach den Eintragungen im Kirchenbuch darzustellen.

Die Kirchenbuch-Duplikate habe ich vollständig abgeschrieben und in einer Excel-Arbeitsmappe zusammengefasst. Diese Datei werde ich bei Interesse per Mail versenden. Eine Möglichkeit zum Download kann ich nicht anbieten, da es sich um eine offene Datei handelt.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern ein glückliches und friedfertiges Neues Jahr. Wszystkim życzymy szczęśliwego i pomyślnego Nowego Roku. Happy New Year to all of you.

Die Pfarre Marzdorf 1823-1874 – Teil III

Das Allgemeine Landrecht von 1794 verlangte bei allen Eintragungen ins Kirchenbuch zwingend die Angabe des Standes der Eltern, der Verstorbenen und der jeweiligen Zeugen. Diese Informationen finden sich auch in den Kirchenbuch-Duplikaten, was Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Struktur der Marzdorfer Pfarre ermöglicht. Allerdings sind die Standesbegriffe, die in den Zweitschriften gebraucht werden, äußerst vielfältig und wenig konsistent. Allein in den Duplikaten der Taufbücher der Jahre 1823 bis 1874 lassen sich bei insgesamt 2 764 Einträgen 116 unterschiedliche Standesangaben in deutscher und lateinischer Sprache zählen.

Viele dieser Angaben – gerade bei den Trauzeugen – beschränken sich auf die Nennung des Familienstandes: Jüngling, Ehefrau, Witwe. Bei anderen Ereignissen notierten die Pfarrer Berufsangaben – Schuhmacher, Schneider, Briefträger – abwechselnd mit Angaben zum Besitz – Eigentümer, Pächter, Gutsbesitzer – oder zu einer sozialen Funktion: Kirchenvorstand, Schulze, Dorfdiener. Am häufigsten sind jedoch Bezeichnungen, die gesellschaftlich und historisch konnotiert sind: Bauer, Kossät, Beikossät, Einlieger, Erbherr.

In der Vielfalt der Standesangaben spiegeln sich fundamentale Veränderungen in der preußischen Gesellschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die tradierten Geburtsstände wie Edelmann, Bauer oder Bürger wurden zunehmend durch Besitzstände abgelöst, neben denen sich bereits funktionale Berufsgruppen formierten1Die Erosion der ständischen Gesellschaft war nur ein Aspekt des Wandels, den die preußischen Landgemeinden im Zeitraum von 1830 bis 1900 in ökonomischer, administrativer und juristischer Hinsicht erlebten. Siehe dazu: P. Wagner: Bauern, Junker und Beamte. 2005..

Wie bereits erwähnt, führte Conrad Busse die Kirchenbuch-Duplikate von 1825 bis 1835 durchgängig auf Latein. Die nachfolgende Tabelle stellt den von ihm genutzten lateinischen Standesbegriffen die deutschsprachigen zur Seite, die in den übrigen Jahren – mitunter bei denselben Personen – Verwendung fanden

LateinDeutschLateinDeutsch
AgricolaKossät, EigentümerFerri FaberSchmied
BaccalaureusSchullehrerHare(de)s bonorumErbherr des Gutes
CarpentariusStellmacherInquilinus2Nach I. J. G. Scheller: Deutsch-lateinisches Lexicon. 1784, Spalte 757 ist ein inquilinus ein Häusler »ohne eigenes Haus«.Einwohner, Einlieger
CauponisGastwirt, HändlerOpilioSchaf- o. Ziegenhirt
ColonusBauerPastor (pecoris)(Schweine-)hirt
ConductorisPächterPiscatorFischer
CossetusKossät, EigentümerPossessor domusHäusler
Custodis saltus / silvaeWaldhüter, FörsterSartorSchneider
Fabri cupariiKüfnerScriniariusTischler
Fabricator CrematiBrennerScultetusSchulze
Famula, FamulusGehilfeVillicus(Guts-)Verwalter
Tabelle 10: Standesbezeichnungen auf Latein und Deutsch.

Die ständische Gesellschaft im ländlichen Preußen des 19. Jahrhunderts war hierarchisch geprägt, wobei sich aus jeder Position spezifische Rechte (und Pflichten) ergaben. An der Spitze der Standespyramide stand der Gutsherr, der nicht nur über den meisten Besitz verfügte, sondern bis 1873 auch die örtliche Polizeigewalt und bis 1849 die Patrimonialgerichtsbarkeit ausübte. Er stand als Patron den Kirchen und Schulen des Amtsbezirks vor, für deren Unterhalt er verantwortlich war3In den Schulakten von Königsgnade, die heute in Piła verwahrt werden, befindet sich eine Aufstellung über Patronatslasten in Höhe von 73 113 Mark, die das Dominium Marzdorf noch in den Jahren 1894 bis 1923 für den Unterhalt der lokalen Schulen und Kirchen aufbringen musste. (Regierung Marienwerder/Schneidemühl: Actra betr. Schulbauten in Königsgnade 1887-1936, undatiertes Schreiben, ohne Pagina.). Die Rechte des Gutsherr waren nicht an seine Person gebunden, sondern an den Gutsbesitz – formal betrachtet handelte sich also um einen Besitzstand, dem freilich eine ganz besondere administrative und gesellschaftliche Rolle zufiel. Die Besitzverhältnisse des Marzdorfer Dominiums änderten sich zwischen 1823 und 1874 zweimal: Bis 1832 war der Erbherr Kalixtus von Grabski Eigentümer des Guts, dann fiel es in Folge einer Subhastation an Carl Ferdinand Kloer, der es wiederum 1848 an Franz Guenther verkaufte. Sowohl die Namen Grabski wie auch Kloer sind in den Kirchenbuch-Duplikaten zu finden, Angehörige der Familie Guenther finden sich hingegen nicht.4In den Kirchenbuch-Duplikaten findet sich bei drei Taufen der Jahre 1864 bis 1872 noch ein weiterer »Gutsbesitzer«: Bernhard Schmidt in Marzdorf. Diese Standeszuschreibung durch die Pfarrer Steinke, Harski und Krefft ist rätselhaft, denn Bernhard Schmidt bewirtschaftete kein Gut, sondern das Kruggrundstück, dass sein Vorfahr Martin Schmidt 1706 erworben hatte. Dessen Nachfahre Christoph Schmidt wird 1772 als Zinsbauer auf einer Hufe Land im Kontributionskataster erwähnt, wo sich auch eine Abschrift des ursprünglichen Privilegs findet. GStA PK: Kontributionskataster Dorf Martzdorff, Blatt 251 ff.

Weit unterhalb des Gutsherrn, aber an der Spitze der eigentlichen Dorfgesellschaft standen die Bauern, die in den Zweitschriften auch die Bezeichnung Colonus5Die eigentliche Wortbedeutung von Colonus ist »Jemand, der sich mit dem Ackerbau beschäftigt, gleichviel ob auf seinem Eigenthume oder als arator oder im Kleinen, d. h. als Pächter einer Staatsdomäne oder eines Privatgrundstückes«. (F. Schmalfeld: Lateinische Synonymik. 1869, S. 139.) Im Duplikat wird der Begriff immer nur für die bäuerlichen Eigentümer verwendet. tragen. Im 19. Jahrhundert bildeten auch sie de jure nur einen Besitzstand, dem keine Sonderrechte gegenüber anderen ländlichen Eigentümern zukam. Faktisch war das jedoch anders, denn vielerorts bestimmten die Bauern traditionell mehr oder minder allein die Geschicke eines Dorfes. In der Regel stellten sie den Schulzen und die Dorfgeschworenen, weil andere Bevölkerungsgruppen dazu »weder die Zeit noch das nöthige Ansehen«6R. Wegner: Grundzüge einer zeitgemäßen Reorganisation des Gemeindewesens. 1850, S. 34. hatten.

Eine herausgehobene Schicht innerhalb des Bauernstandes bildeten die Freibauern und Freischulzen, die schon vor der Bauernbefreiung von persönlichen Diensten befreit waren7»Auch in Westpreußen waren schon in polnischer Zeit an einigen Orten die Bauern von Scharwerksdienst entbunden und auf einen höhern Zinsfuß gesetzt; sie hießen Freibauern […]«. A. von Haxthausen: Die ländliche Verfassung in den Provinzen Ost- und West-Preußen. 1839, S. 225.. Zum Bauernstand gehörten ebenfalls die Gastwirte, die ihren Dorfkrug in der Regel im Nebenerwerb8Eine Ausnahme mag Johann Neumann in Marzdorf gewesen sein, der ab 1863 genannt wird. führten, und die Altsitzer, die mit zehn Taufen in den Kirchenbuch-Duplikaten verzeichnet sind. Es war damals nicht ganz ungewöhnlich, dass sich Bauern schon früh aufs Altenteil zurückzogen, als Witwer dann noch einmal heirateten und eine neue Familie gründeten. Der Elbinger Stadtrat Rudolph Wegner schrieb dazu 1850:

»Allgemein üblich ist es z. B. daß der junge Bauersohn sich wo möglich durch Verbindung mit einer alten Wittwe in einen Hof hinein heirathet, und sich in späteren Jahren, wenn diese gestorben, wieder durch ein unverhältnißmäßig junges Weib zu entschädigen sucht. Aus natürlicher Trägheit liebt es dann der Bauer, sich kaum 50jährig von seinem Sohn auf Altentheil setzen zu lassen, wodurch er, noch in vollen Kräften, zur drückendsten Last der Seinen wird, was natürlich kein gutes Familienverhältniß giebt.«9R. Wegner, a. a. O. 1850, S. 53.

Eine Stufe unter den Bauern standen die Kossäten, die im Kirchenbuch auch Ackersmann, Agricola, Cossetus, Halbbauer oder Eigentümer10Einige Begriffe werden zeitlich versetzt genutzt: Ackersmann nur 1823, Cossetus nur 1825, Agricola von 1825 bis 1835, Halbbauer nur 1872. Mit den Begriffen Kossät und Eigentümer werden zudem gleiche Personen benannt, so gilt Johann Günterberg in Marzdorf 1858 als Eigentümer, 1860 als Kossät, 1862 und 1864 wieder als Eigentümer und 1865 sowie 1870 als Kossät. benannt sind. Sie bewirtschafteten ebenfalls als Landwirte den eigenen Besitz, der aber meist kleiner ausfiel als die bäuerlichen Höfe. Vor der Gemeinheitsteilung (in Königsgnade 1850) gehörte das Land der Kossäten nicht – oder nicht gänzlich – zur bäuerlichen Feldflur der Dörfer, weshalb sie bei Flursachen nicht mitbestimmen konnten11»Daraus erklärt sich das geringere Ansehen des Kossäthen: er hat keinen Antheil an den gemeinsamen Angelegenheiten der Flur, er hat in Flursachen nicht mit­zureden; er steht außerhalb des Kreises der Bauern, des Kreises, der durch die Wirthschaft nach gemeinsamer Regel zusammengehalten wird.« G. F. Knapp: Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. 1887, S. 12.. Nach der Gemeinheitsteilung wurde dieser Unterschied hinfällig, der Standesbegriff blieb aber bestehen. Wie aus den Duplikaten hervorgeht, waren einige der Fischer in Neu Prochnow – z. B. Johann Behnke und Joseph Manthey – gleichzeitig Kossäten.

Die Beikossäten, die eine Stufe unter den Kossäten standen, stellten unter diesem Namen eine Besonderheit des Deutsch Kroner Landes dar. Auch sie bewirtschafteten als Landwirte eigenen Besitz, dessen Umfang jedoch nicht ausreichte, um die Familie zu ernähren. Sie verdingten sich deshalb zeitweise als Landarbeiter auf dem Gut – seltener in den Bauernwirtschaften der Pfarre – und waren damit nur noch nebenbei Kossäten. In den Duplikaten ist diese Kategorie erst ab 1842 zu finden. Es ist unbekannt, ob es den Stand vorher nicht gab oder ob Pfarrer Busse seine Angehörigen nur nicht so bezeichnete.

Ebenfalls zu den Landwirten – jedoch nicht zu den Landbesitzern – gehörten die Pächter, die in der Pfarre Marzdorf freilich nicht häufig waren. Die Kirchenbuch-Duplikate nennen in Marzdorf die Kirchenland-Pächter Martin Kluck und Martin Schulz sowie in Lubsdorf die Pfarrbüdner Johann Schulz und Johann Schmidt, die wohl eine Pachtstelle nacheinander bewirtschafteten12Johann Schmidt wird in den Kirchenbuch-Duplikaten erstmalig 1867, nach dem im Oktober 1866 erfolgten Tod von Johann Schulz, als Pfarrbüdner in Lubsdorf erwähnt.. Zusätzlich wird in Königsgnade 1856 Martin Garske als Erbpächter bezeichnet, der freilich noch 1855 als Eigentümer im Duplikat stand. Es ist bekannt, dass die Familie Kluck das Pacht­land auf dem Abbau Iretz später erwarb. In diesem Fall wurden aus Pächtern Bauern.

Anders als die Pächter gehörten die Häusler zu den ländlichen Grundbesitzern, nicht aber zu den Landwirten. Ihr Eigentum beschränkte sich auf das eigene Haus und etwas Gartenland, das im Nebenerwerb bestellt wurde. Im Haupterwerb waren viele Häusler Handwerker, was die Pfarrer mitunter auch in den Duplikaten vermerkten: So findet sich Johann Garske aus Marzdorf als Häusler und Schmied und Johann Göhrke in Königsgnade als Häusler und Schuhmacher in den Büchern. In Dreetz und Neu Prochnow waren einige der Fischer Häusler, in Marzdorf stellten sie einen hohen Anteil der beständigen Gutsarbeiter. In drei Fällen wird in den Taufbuch-Duplikaten die Standesbezeichnung Käthner gebraucht, die eigentlich den Kossäten bezeichnet. Pfarrer Katzer nutzte sie aber in allen drei Fällen13Der 1842 als Käthner geführte Peter Garske aus Königsgnade erscheint im Separationsrezess von 1850 als Eigenhäusler mit 15 Morgen Land. Die im Rezess ebenfalls genannten Kossätenhöfe waren durchschnittlich 50 Morgen groß. (GStA PK: Grundsteuer-Kataster des adlichen Dorfes Koenigsgnade 1841-1850.) für Häusler.

Auf der untersten Stufe der ländlichen Gesellschaft stand der besitzlose Stand der Landarbeiter, die in den Kirchenbuch-Duplikaten als Einlieger, Einwohner14Die Bezeichnung Einwohner findet sich nur 1824 in den Duplikaten. Im Jahr 1823 nutzte Pfarrer Busse auch für diese Gruppe die Bezeichnung Häusler, im Jahr 1825 wechselte er zu Inquilinus., Inquilini, Arbeiter15Die Bezeichnung Arbeiter wird in den Duplikaten nur von Pfarrer Steinke in den Jahren 1865 bis 1867 gebraucht. Die Pfarrer Katzer, Harski und Krefft schrieben Arbeitsmann., Tagelöhner, Bediente, Knechte oder Mägde benannt sind. All diese Bezeichnungen wurden zeitlich verschoben mehr oder minder synonym genutzt, und es finden sich viele Fälle, in denen Knechte bei anderer Gelegenheit als Einlieger oder Arbeiter galten. Wenn nicht die Nachlässigkeit der Pfarrer die Ursache war, scheint diese Schicht überhaupt eine gewisse Durchlässigkeit besessen zu haben, denn mancher Einlieger oder Knecht steht bei anderen Anlässen als Beikossät16Ein Beispiel ist Franz Marten aus Marzdorf, der 1863 im Taufbuch-Duplikat als Arbeitsmann bezeichnet wird, 1865 als Beikossät, 1870 als Einlieger und 1872 wieder als Beikossät. oder Häusler17Stephan Litfin aus Marzdorf z. B. wurde in den Taufbuch-Duplikaten 1863 als Arbeitsmann geführt, 1865 und 1867 als Einlieger, 1869 als Häusler, 1872 wieder als Einlieger. Etwas glaubwürdiger erscheint die Entwicklung bei Michael Kluck aus Königsgnade: Er wurde 1859 als Knecht geführt, 1861 bis 1863 als Einlieger und ab 1865 als Häusler. in den Duplikaten. Die Mehrheit der Landarbeiter fand sicherlich auf dem Gut in Marzdorf Beschäftigt, aber auch in den Bauerndörfern der Umgebung sind Einlieger, Knechte und Mägde zu finden. Interessant ist vielleicht die Karriere von Martin Schmidt, der 1829 als Famulus diente, 1831 als Inquilinus Erwähnung fand und nach 1833 als Vogt das Marzdorfer Gut verwaltete.

Neben den beschriebenen Gruppen werden in den Kirchenbuch-Duplikaten Standesangaben verwendet, die speziellen Funktionen in der Dorfgemeinschaft oder der Gutswirtschaft bezeichnen: Briefträger, Brenner, Chaussee-Aufseher, Dorfdiener, Forstverwalter, Gärtner, Hirt, Kaufmann, Lehrer, Postillion, Schäfer, Wirtschaftsinspektor. Diese Angaben finden sich bei insgesamt 158 Taufeinträgen in den Kirchenbuch-Duplikaten, wobei allein 53 auf Schäfer und Hirten entfallen.

Trotz aller Unschärfe des vorhandenen Materials wird in der nachfolgenden Tabelle versucht, die 2764 Taufen der Duplikate sieben sozio­ökonomischen »Standes«-Gruppen zuzuordnen, und aus den gegebenen Namen der Eltern die Zahl der jeweils zugehörigen Familien18Im Grunde handelt es sich um Paarbeziehungen, denn durch den frühen Tod eines Ehegatten entfielen auf einige Familien mehrere Elternteile. zu ermitteln:

StandesgruppeZahl der TaufenAnteil in %Zahl d. FamilienAnteil in %
Bauern58321,116216,1
Kossäten2559,1777,6
Beikossäten28910,512112,0
Pächter230,8101,0
Häusler75127,224524,3
Handwerker1716,2767,5
Besitzlose Einlieger50618,323823,6
Sonstige1585,7777,7
ohne Angabe im Duplikat281,010,1
Summe2.7641007100
Tabelle 11: Eine Annäherung an die Sozialstruktur der Pfarre.

Der Gruppe der Bauern (inklusive der Schulzen, Freibauern, Krügern) gehörten also 16,1 Prozent der identifizierten Familien der Pfarre an, auf die jedoch 21,1 Prozent der Taufen entfielen. Im Durchschnitt hatte jede bäuerliche Familie 3,6 Kinder. Auch die Gruppen der Kossäten und der Häusler waren bei ihrem Anteil an den Taufen leicht überrepräsentiert; in diesen Gruppen kamen im Durchschnitt 3,3 bzw. 3,1 Kinder auf eine Familie. Auf die prekäreren Gruppen der Beikossäten, Handwerker und Einlieger entfielen hingegen im Verhältnis weniger Taufen. In diesen Standesgruppen hatte eine Familie im Durchschnitt 2,4 (Beikossäten), 2,3 (Handwerker) und 2,1 (Einlieger) Kinder. Auch in der breitgefächerten Gruppe der Sonstigen lag die durchschnittliche Kinderzahl bei 2,1. Viele Angehörige dieser Gruppe hielten sich allerdings nur kurz in der Pfarre auf oder zogen gar – wie die Schäfer – im ganzen Land umher.

In den Kirchenbuch-Duplikaten sind auch 48 Taufen nach Geburten außerhalb einer Ehe aufgeführt, von denen 24 keine Angaben zum Stand aufweisen, 22 aber der Gruppe der Einlieger zuzuordnen sind, denn die Mütter waren Mägde. Je eine uneheliche Geburt entfiel auch auf die Gruppe der Häusler und Beikossäten.

Zehn der unehelichen Kinder finden sich ebenfalls in den Duplikaten der Totenbücher; sieben von ihnen starben im ersten Lebensjahr. Bei drei Kindern steht der Todeseintrag bereits im Taufbuch, denn sie überlebten die Geburt nicht. Aus diesen Angaben lässt sich eine Säuglingssterblichkeit von 22,9 Prozent bei den »illegitimen« Geburten errechnen – gegenüber 19,4 Prozent bei allen Kindern. In Marzdorf wurden 16 uneheliche Kinder geboren, in Lubsdorf elf, in Brunk und Königsgnade je sechs, drei in Dreetz, je zwei in Böthin und Märkisch Friedland, eins in Neu Prochnow. Von den 48 genannten Geburten entfielen 32 auf die knappe 15 Jahren von 1860 bis 1874, in der ledige Frauen vermutlich nicht mehr so streng einer sozialen Kontrolle unterworfen waren.

Es ist interessant, dass die Sozialstruktur der Marzdorfer Pfarre offenbar der ähnelte, die Robert Stein 1934 für das ländliche Ostpreußen ermittelte. Dort machten Bauern und ihre Familien im Jahr 1859 25,1 Prozent der Bevölkerung aus, Eigenkätner (Besitzer kleinerer Bauernwirtschaften) 10 Prozent und Landarbeiter 40,5 Prozent19Zitiert nach: P. Wagner, a. a. O. 2005, S. 41.. In Marzdorf entfallen auf die Bauern 21,1 Prozent, auf die Kossäten 9,1 Prozent, auf die Beikossäten, Häusler und Einlieger 56 Prozent der Taufeinträge in den Kirchenbuch-Duplikaten. Die letzten beiden Gruppen lassen sich freilich nicht vollständig den Landarbeitern zurechnen, da – bedingt durch die mangelnde Trennschärfe im Datenmaterial – auch Handwerker, Hauspersonal, Fischer etc. enthalten sind. Stein konstatierte für Ostpreußen einen deutlichen Rückgang der Bauernwirtschaften, eine leichte Zunahme der Kätnerstellen und ein starkes Anwachsen der Landarbeiter im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die nachfolgende Grafik stellt die Struktur der Marzdorfer Pfarre in den Jahren 1823 bis 1835, 1842 bis 1859 und 1860 bis 1874 anhand der Einträge in den Taufbuch-Duplikaten dar.

Trotz aller Mängel in der Berechnung, in der vom Anteil einer Bevölkerungsgruppe an den Taufen auf deren Anteil insgesamt geschlossen wird, ist auch in der Marzdorfer Pfarre ein deutlicher Rückgang der Bauern, ein leichte Zunahme der Kossäten und ein kontinuierliches Wachstum bei den Landarbeitern (zusammengefasst aus Beikossäten, Häuslern und Einliegern) festzustellen. Anders als in Ostpreußen sank der bäuerliche Anteil an den Taufen jedoch erst ab 1860 nach einem leichten Anstieg in den 1840er Jahren. Der Rückgang in der Gruppe der »sonstigen Einwohner« ist darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Hirten und Schäfer beständig abnahm. Ihr Anteil an den Taufen reduzierte sich von 3,3 Prozent in den Jahren 1823 bis 1835 auf 2,5 Prozent in den Jahren 1842 bis 1859 und lediglich 0,6 Prozent in den Jahren 1860 bis 1874.

Wie veränderte sich die Bevölkerungsstruktur aber in den einzelnen Orten? Die nächste Grafik zeigt die Entwicklung bei den drei Hauptgruppen der Bauern, der Kossäten und der Landarbeiter (wiederum zusammengefasst aus Beikossäten, Häuslern und Einliegern) in den vier Hauptorten der Pfarre Marzdorf auf der Grundlage der Taufeinträge:

Wie erwartet, zeigte das Gutsdorf Marzdorf eine vollständig andere Struktur als die Bauerndörfer Brunk, Königsgnade und Lubsdorf. In Marzdorf gab es nur sehr wenig Bauern und Kossäten, den Großteil der Bevölkerung machten die Arbeitskräfte des Dominiums aus, das zu den bedeutendsten Rittergütern der Kreises Deutsch Krone zählte. Die Sozialstruktur in Marzdorf änderte sich im Verlauf des halben Jahrhunderts von 1823 und 1874 trotz der Besitzerwechsel nur sehr wenig. Die ermittelten Abweichungen bleiben mehr oder weniger im Rahmen der statistischen Unschärfe.

Ganz anders verhielt es sich in den Bauerndörfern. Sie erlebten in diesem Jahrhundert tiefgreifende Veränderungen, die sich besonders exemplarisch am Beispiel von Königsgnade darstellen lassen. In den Jahren 1823 bis 1835 hatte dort die Gruppe der freigewordenen und auf die Feldmark ausgesiedelten früheren Gutsbauern einen Anteil von rund 42 Prozent an allen verzeichneten Taufen. Dieser Anteil erhöhte sich in den nächsten Jahren noch einmal auf fast 47 Prozent, um dann auf nur noch 27 Prozent zu fallen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Taufen, die in den Kirchenbuch-Duplikaten auf die Landarbeiter entfallen, kontinuierlich und zuletzt sprunghaft von 27,7 auf 46,2 Prozent an. Der Taufanteil der Kossäten nahm ebenfalls zu, aber deutlich langsamer als jener der Landarbeiter, auf die in den Jahren 1860 bis 1874 fast jede zweite Taufe entfiel. Die traditionsreicheren Bauerndörfer Brunk und Lubsdorf machten ähnliche Veränderungen durch, die aber nicht so deutlich ausfielen wie in Königsgnade. In beiden Dörfern lag der Taufanteil der Landarbeiter allerdings immer höher als in Königsgnade; zuletzt erreicht er 51,8 bzw. 57,4 Prozent.

Für diese Entwicklung sind nur zwei Erklärungen möglich: Entweder fielen in Brunk, Königsgnade und Lubsdorf zwischen 1823 und 1874 Bauernstellen weg oder die vorhandenen Bauernhöfe steigerten den Einsatz von Lohnarbeitskräften. Für die erste Erklärung gibt es keine Hinweise. Das Dorf Königsgnade z. B. wurde 1821 mit 19 Bauern- und sechs Kossätenhöfen20E. J. Krefft, a. a. O. August 2020, S. 10. gegründet, bestand 1850 aus 19 Bauernhöfen, sechs Kossätengehöften sowie zwei Eigenhäuslern21GStA PK: Grundsteuer-Kataster des adlichen Dorfes Koenigsgnade (1841-1850). und wies auch im Jahr 1945 noch 18 Bauernwirtschaften mit einer Betriebsgröße über 20 Hektar und sechs Kleinbauernhöfe mit einer Betriebsgröße zwischen zehn und 20 Hektar auf22Bundesarchiv Bayreuth: Grund- und Betriebslisten der Heimatauskunftstelle für den Regierungsbezirk Schneidemühl – Gemeinde: Königsgnade vom 24./25. September 1956..

Viel wahrscheinlicher scheint die Hypothese, dass die bestehenden Bauernhöfe ihre Wirtschaften nach der Separation ausweiteten und intensivierten. Vermutlich wurde die traditionelle Drei-Felder-Wirtschaft aufgegeben, bisherige Gemeinschaftshütungen und -wiesen in Ackerland verwandelt und Brachflächen urbar gemacht. Der Rückgang des Anteils der Schäfer und Hirten an den Taufen deutet in diese Richtung. Die neue Wirtschaftsweise erforderte den vermehrten Einsatz von Arbeitskräften, die zumeist aus der Pfarre selbst stammten und als Häusler oder Beikossäten die Dorfbevölkerung vermehrten.

Wenn diese Hypothese zutrifft, wäre nicht das Gut in Marzdorf, sondern die vielen Bauernwirtschaften die Hauptträger der Modernisierung nach 1860 gewesen. Das Sozialgefüge in der Pfarre änderte sich, weil die Bauern sich Marktbedingungen anpassten. Offenbar waren sie dabei auf längere Sicht erfolgreich, denn ab 1890 wurden die meisten Bauerngehöfte z. B. in Königsgnade durch Neubauten ersetzt, die der veränderten Wirtschaftsweise entsprachen. Ob freilich auch die ländlichen Unterschichten an den Erfolgen der Modernisierung partizipierten, ist eine ganz andere Frage. Die beachtliche Auswanderung nach Australien, Kanada und den USA, die bis in die 1870er Jahre anhielt, lässt das Gegenteil vermuten. Hinweise auf Migration finden sich in den Marzdorfer Kirchenbuch-Duplikaten – anders als z. B. in den Taufbüchern der katholischen Pfarre Mellentin23Ecclesiae Parochialis Mellentinensis: Liber Baptizatorum [Taufbuch der Parochial-Kirche von Mellentin] 1846-1888. Das Buch liegt ebenfalls in einer Abschrift vor, die bei mir angefordert werden kann. – allerdings nicht.

Die nachfolgende Grafik stellt auf Grundlage der Taufbuch-Duplikate Veränderungen in den unterbäuerlichen Schichten der Beikossäten, der Häusler und der Einlieger dar.

Bei aller Vorsicht gegenüber dem Datenmaterial sind doch einige Entwicklungen erkennbar. Die Gruppe der Beikossäten, die erst ab 1842 in den Kirchenbuch-Duplikaten genannt wird, war nur im Gutsdorf Marzdorf von einiger Bedeutung, aber auch hier ging ihr Anteil an den Taufen in den Jahren 1860 bis 1874 zurück. In allen Gemeinden stieg über alle Jahre hinweg der Anteil der Häusler, während der Anteil der besitzlosen Einlieger in den Bauerndörfern nach 1842 stagnierte, sich jedoch in Marzdorf verdoppelte. In Marzdorf wie den Bauerndörfern bildete ab 1842 der Stand der Häusler – dem ja zusätzlich die meisten Handwerker zugehörten – die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsgruppe. Von der gesellschaftlichen Mitwirkung blieb diese Schicht kleiner Hauseigentümer freilich bis 1918 weitgehend ausgeschlossen, weil die Kommunalverfassung den Großbesitz bevorzugte.

Von den 569 Hochzeiten, die sich in den Kirchenbuch-Duplikaten finden, lassen sich 172 nicht zur Feststellung der Sozialstruktur nutzen, weil die Pfarrer entweder bei der Braut, beim Bräutigam oder auch bei beiden nur den Familienstand (z. B. Witwer, Jungfrau) notierten und auf weitere Angaben verzichteten. Besonders häufig kam das in den Jahren 1870 bis 1874 vor, in denen bei 64 von insgesamt 69 Heiratseinträgen nur unzureichende Standesangaben vorliegen. Für die Auswertung sind mithin 442 Datensätze geeignet, bei denen in 158 Fällen für Bräutigam und Braut derselbe Stand angegeben wurde – das betrifft ein Drittel aller Eheschließungen. Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht den Anteil der einzelnen Schichtgruppen an den 884 vorliegenden Einzeldaten für Braut bzw. Bräutigam sowie die Häufigkeit von identischen Angaben:

StandNennungen beim BräutigamNennungen bei der BrautAnteil an allen NennungenAnteil standesgleicher Ehen
Bauern14217135,4 %58,2 %
Kossäten37398,6 %7,9 %
Beikossäten26447,9 %40,0 %
Häusler677716,3 %16,3 %
Handwerker17113,2 %7,1 %
Fischer751,4 %16,7 %
Hirten17113,2 %7,1 %
Einlieger32286,8 %26,7 %
Arbeiter752311,1 %26,5 %
Sonstige22336,2 %14,0 %
Tabelle 12: Auch an den Eheschließungen lag der Anteil der Bauern bei über einem Drittel.

Das Standesbewusstsein erscheint – wie erwartet – bei den Bauern besonders hoch, aber auch in den unterbäuerlichen Schichten der Beikossäten, Einlieger und Arbeiter wurde mehr als ein Viertel aller Ehen standesgleich geschlossen. Das scheinbar geringe Standesbewusstsein der Kossäten täuscht: Zwar wurden nur 7,9 Prozent der Hochzeiten im Stand selbst geschlossen, aber bei weiteren 39,5 Prozent kam der Partner aus dem Bauernstand. Zwischen den beiden landwirtschaftlichen Besitzergruppen bestand offenbar eine Affinität. Die nachfolgende Tabelle gibt an, welcher Stand von den einzelnen Gruppen bei einer Eheschließung präferiert wurde, und nennt den Anteil der drei häufigsten Nennungen an allen Hochzeiten dieser Gruppe:

Stand1. Rang2. Rang3. RangAnteil an allen Hochzeiten
BauernBauernHäuslerKossäten80,5 %
KossätenBauernHäuslerArbeiter69,7 %
BeikossätenBeikossätenArbeiterHäusler81,4 %
HäuslerHäuslerBauernArbeiter69,4 %
HandwerkerBauernSonstigeArbeiter67,9 %
FischerBauernFischerEinlieger66,7 %
HirtenBauernArbeiterHäusler57,1 %
EinliegerEinliegerBauernArbeiter58,3 %
ArbeiterArbeiterBeikossätenHäusler57,1 %
PächterBauernSonstige100,0 %
SonstigeBauernSonstigeHandwerker48,8 %
Tabelle 13: Bei den Pächtern sind in den Duplikaten nur 12 Hochzeiten verzeichnet, von denen 9 mit Bauern und je eine mit einem Lehrer, einem Förster und einem Bahnwärter geschlossen wurden.

Die vom Elbinger Stadtrat Wagner vorstehend beschriebenen Ehen zwischen altersungleichen Partnern aus dem Bauernstand kamen auch in der Marzdorfer Pfarre vor. Die Kirchenbuch-Duplikate verzeichnen zwischen 1825 und 1872 25 Eheschließungen von verwitweten Bauern; bei neun dieser Trauungen war die Braut mindestens zehn Jahre jünger, bei drei sogar mehr als 20 Jahre jünger als der Bräutigam. Ein hervorstechender Fall ist der des 60-jährigen Witwers und Altsitzers Martin Koltermann aus Brunk, der 1855 die 23-jährige Stellmachertochter Ernestine Radke heiratete.

Auf der anderen Seite verzeichnen die Kirchenbuch-Duplikate in den Jahren 1829 bis 1847 fünf Fälle, in denen Bauernwitwen ein zweites Mal heirateten. Bei zwei dieser Trauungen war der Bräutigam zehn oder mehr Jahre jünger als die Braut. Das Extrem stellt hier die Trauung der 45-jährigen Witwe Christina Robek aus Königsgnade mit dem 23-jährigen Knecht Martin Garske im Jahr 1847 dar.

Altersungleiche Ehen kamen jedoch nicht nur beim Bauernstand vor. Bei 23 Trauungen von Witwen aus anderen Ständen, die in den Kirchenbuch-Duplikaten zwischen 1828 und 1869 verzeichnet sind, war in vier Fällen der Bräutigam mindestens zehn Jahre jünger, in zwei Fällen jedoch auch mindestens zehn Jahre älter als die Braut. Bei den 50 Eheschließungen von Witwern aus anderen Ständen, die sich zwischen 1823 und 1872 in den Duplikaten finden, war in 19 Fällen die Braut mindestens zehn Jahre jünger, in sechs Fällen sogar mehr als 20 Jahre jünger als der Bräutigam. Zu den Witwern, die mit jüngeren Frauen eine zweite Ehe schlossen, zählte der 60-jährige Lehrer Michael Schulz aus Lubsdorf, der 1855 die 37-jährige Einliegertochter Anna Remer heiratete, und der 50-jährige Bürger Christoph Krause aus Deutsch Krone, der 1857 die 29-jährige Fischertochter Anna Maria Miranowski aus Dreetz ehelichte.

Die Tatsache, dass Witwer an 75 der 569 in den Duplikaten verzeichneten Hochzeiten beteiligt waren, Witwen aber nur an 28, ist gewiss auch auf das Risiko zurückzuführen, mit denen in der damaligen Zeit Geburten behaftet waren. Insgesamt wird in den Duplikaten der Sterbebücher 34-mal die Todesursache »Wochenbett« bzw. »Puerperio« genannt – das bedeutet einen Anteil von zehn Prozent an allen Sterbeeinträgen, die Frauen im Alter von 13 Jahren oder mehr betreffen.

Wie oben erwähnt lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen und Männer, die das erste Lebensjahr erreicht hatten, in der Pfarre Marzdorf bei 34 Jahren. Die nachfolgende Tabelle nennt die Werte für die einzelne Standesgruppen:

StandLebenserw. ab 1. Jahr – FrauenLebenserw. ab 1. Jahr – MännerLebenserw. ab 10 Jahren – FrauenLebenserw. ab 10 Jahren – Männer
Bauern39,5 Jahre43,2 Jahre48,9 Jahre54,4 Jahre
Kossäten34,5 Jahre38,3 Jahre48,5 Jahre55,1 Jahre
Beikossäten43,0 Jahre39,0 Jahre51,5 Jahre48,1 Jahre
Häusler27,3 Jahre28,7 Jahre44,5 Jahre42,3 Jahre
Einlieger u. Arbeiter36,2 Jahre38,3 Jahre46,5 Jahre50,6 Jahre
Sonstige32,6 Jahre25,4 Jahre46,6 Jahre44,2 Jahre
Alle Stände34,0 Jahre34,0 Jahre48,6 Jahre49,7 Jahre
Tabelle 14: Statistisch gesehen lebten männliche Kossäten und Bauern am längsten, Häusler am kürzesten.

Zum Abschluss soll hier auf eine Eigentümlichkeit in den Duplikaten der Traubücher hingewiesen werden: In den Jahren 1870 bis 1874 wird bei 33 von insgesamt verzeichneten 69 Ehen der Marzdorfer Lehrer Hermann Wiese als einer der Trauzeuge genannt, bei 34 Ehen ist es der Kirchenvorsteher Johann Garske. Der Lubsdorfer Lehrer Hilarius Rehbronn bezeugte die Gültigkeit von fünf Hochzeiten, der Brunker Lehrer Johann Theuss wurde in acht Fällen verzeichnet. Offenbar besassen diese vier Männer in besonderem Maße das Vertrauen der Brautleute.

Anmerkungen:

  • 1
    Die Erosion der ständischen Gesellschaft war nur ein Aspekt des Wandels, den die preußischen Landgemeinden im Zeitraum von 1830 bis 1900 in ökonomischer, administrativer und juristischer Hinsicht erlebten. Siehe dazu: P. Wagner: Bauern, Junker und Beamte. 2005.
  • 2
    Nach I. J. G. Scheller: Deutsch-lateinisches Lexicon. 1784, Spalte 757 ist ein inquilinus ein Häusler »ohne eigenes Haus«.
  • 3
    In den Schulakten von Königsgnade, die heute in Piła verwahrt werden, befindet sich eine Aufstellung über Patronatslasten in Höhe von 73 113 Mark, die das Dominium Marzdorf noch in den Jahren 1894 bis 1923 für den Unterhalt der lokalen Schulen und Kirchen aufbringen musste. (Regierung Marienwerder/Schneidemühl: Actra betr. Schulbauten in Königsgnade 1887-1936, undatiertes Schreiben, ohne Pagina.)
  • 4
    In den Kirchenbuch-Duplikaten findet sich bei drei Taufen der Jahre 1864 bis 1872 noch ein weiterer »Gutsbesitzer«: Bernhard Schmidt in Marzdorf. Diese Standeszuschreibung durch die Pfarrer Steinke, Harski und Krefft ist rätselhaft, denn Bernhard Schmidt bewirtschaftete kein Gut, sondern das Kruggrundstück, dass sein Vorfahr Martin Schmidt 1706 erworben hatte. Dessen Nachfahre Christoph Schmidt wird 1772 als Zinsbauer auf einer Hufe Land im Kontributionskataster erwähnt, wo sich auch eine Abschrift des ursprünglichen Privilegs findet. GStA PK: Kontributionskataster Dorf Martzdorff, Blatt 251 ff.
  • 5
    Die eigentliche Wortbedeutung von Colonus ist »Jemand, der sich mit dem Ackerbau beschäftigt, gleichviel ob auf seinem Eigenthume oder als arator oder im Kleinen, d. h. als Pächter einer Staatsdomäne oder eines Privatgrundstückes«. (F. Schmalfeld: Lateinische Synonymik. 1869, S. 139.) Im Duplikat wird der Begriff immer nur für die bäuerlichen Eigentümer verwendet.
  • 6
    R. Wegner: Grundzüge einer zeitgemäßen Reorganisation des Gemeindewesens. 1850, S. 34.
  • 7
    »Auch in Westpreußen waren schon in polnischer Zeit an einigen Orten die Bauern von Scharwerksdienst entbunden und auf einen höhern Zinsfuß gesetzt; sie hießen Freibauern […]«. A. von Haxthausen: Die ländliche Verfassung in den Provinzen Ost- und West-Preußen. 1839, S. 225.
  • 8
    Eine Ausnahme mag Johann Neumann in Marzdorf gewesen sein, der ab 1863 genannt wird.
  • 9
    R. Wegner, a. a. O. 1850, S. 53.
  • 10
    Einige Begriffe werden zeitlich versetzt genutzt: Ackersmann nur 1823, Cossetus nur 1825, Agricola von 1825 bis 1835, Halbbauer nur 1872. Mit den Begriffen Kossät und Eigentümer werden zudem gleiche Personen benannt, so gilt Johann Günterberg in Marzdorf 1858 als Eigentümer, 1860 als Kossät, 1862 und 1864 wieder als Eigentümer und 1865 sowie 1870 als Kossät.
  • 11
    »Daraus erklärt sich das geringere Ansehen des Kossäthen: er hat keinen Antheil an den gemeinsamen Angelegenheiten der Flur, er hat in Flursachen nicht mit­zureden; er steht außerhalb des Kreises der Bauern, des Kreises, der durch die Wirthschaft nach gemeinsamer Regel zusammengehalten wird.« G. F. Knapp: Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. 1887, S. 12.
  • 12
    Johann Schmidt wird in den Kirchenbuch-Duplikaten erstmalig 1867, nach dem im Oktober 1866 erfolgten Tod von Johann Schulz, als Pfarrbüdner in Lubsdorf erwähnt.
  • 13
    Der 1842 als Käthner geführte Peter Garske aus Königsgnade erscheint im Separationsrezess von 1850 als Eigenhäusler mit 15 Morgen Land. Die im Rezess ebenfalls genannten Kossätenhöfe waren durchschnittlich 50 Morgen groß. (GStA PK: Grundsteuer-Kataster des adlichen Dorfes Koenigsgnade 1841-1850.)
  • 14
    Die Bezeichnung Einwohner findet sich nur 1824 in den Duplikaten. Im Jahr 1823 nutzte Pfarrer Busse auch für diese Gruppe die Bezeichnung Häusler, im Jahr 1825 wechselte er zu Inquilinus.
  • 15
    Die Bezeichnung Arbeiter wird in den Duplikaten nur von Pfarrer Steinke in den Jahren 1865 bis 1867 gebraucht. Die Pfarrer Katzer, Harski und Krefft schrieben Arbeitsmann.
  • 16
    Ein Beispiel ist Franz Marten aus Marzdorf, der 1863 im Taufbuch-Duplikat als Arbeitsmann bezeichnet wird, 1865 als Beikossät, 1870 als Einlieger und 1872 wieder als Beikossät.
  • 17
    Stephan Litfin aus Marzdorf z. B. wurde in den Taufbuch-Duplikaten 1863 als Arbeitsmann geführt, 1865 und 1867 als Einlieger, 1869 als Häusler, 1872 wieder als Einlieger. Etwas glaubwürdiger erscheint die Entwicklung bei Michael Kluck aus Königsgnade: Er wurde 1859 als Knecht geführt, 1861 bis 1863 als Einlieger und ab 1865 als Häusler.
  • 18
    Im Grunde handelt es sich um Paarbeziehungen, denn durch den frühen Tod eines Ehegatten entfielen auf einige Familien mehrere Elternteile.
  • 19
    Zitiert nach: P. Wagner, a. a. O. 2005, S. 41.
  • 20
    E. J. Krefft, a. a. O. August 2020, S. 10.
  • 21
    GStA PK: Grundsteuer-Kataster des adlichen Dorfes Koenigsgnade (1841-1850).
  • 22
    Bundesarchiv Bayreuth: Grund- und Betriebslisten der Heimatauskunftstelle für den Regierungsbezirk Schneidemühl – Gemeinde: Königsgnade vom 24./25. September 1956.
  • 23
    Ecclesiae Parochialis Mellentinensis: Liber Baptizatorum [Taufbuch der Parochial-Kirche von Mellentin] 1846-1888. Das Buch liegt ebenfalls in einer Abschrift vor, die bei mir angefordert werden kann.

Die Pfarre Marzdorf 1823-1874 – Teil II

Selbstverständlich verteilten sich die 2764 Taufen, 1556 Sterbefälle und 569 Hochzeiten, die in den katholischen Kirchenbuchduplikaten registriert sind, auch nicht gleichmäßig über den Jahreslauf. Die nachfolgende Grafik zeigt die Streuung der einzelnen Ereignisse über die Monate.

Grafik – Verteilung der Taufen, Sterbefälle und Hochzeiten des Kirchenbuchduplikats auf die Kalendermonate

Bei der Darstellung der Taufen fällt ein Einbruch in den Monaten Mai bis Juli auf, in denen im langjährigen Durchschnitt rund 30 Prozent weniger Kinder geboren wurden als in der übrigen Zeit des Jahres. Da die Taufe zur damaligen Zeit in der Regel wenige Tage nach der Geburt erfolgte, lässt sich aus der Grafik ablesen, dass in den Erntemonaten August bis September in dieser agrarisch geprägten Region weniger Kinder gezeugt wurden. Die hohe körperliche Belastung durch die überwiegend manuell verrichtete Erntearbeit mag sich in dieser Kurve niederschlagen.

Der Verlauf der Sterbekurve zeigt besonders hohe Sterbezahlen in den Wintermonaten und besonders niedrige im Sommer, was für unsere Klimazone typisch ist. Interessanter ist die Verteilung der Hochzeiten auf den Jahresverlauf: Der beliebteste Monat für die Eheschließung war mit weitem Abstand der November, während im März, im Dezember und in den Sommermonaten Juni bis September kaum geheiratet wurde. Auch diese Kurve sagt viel über den Arbeitsbedarf in der Landwirtschaft aus, in der von März bis Mitte Oktober die meisten Tätigkeiten anfielen. Der November hingegen – nach dem Einbringen der Ernte – erschien fast einem Drittel der Brautleute als bester Zeitpunkt für eine Heirat. Der Mai, der heute ein beliebter Monat für Hochzeiten ist, genoss in der damaligen Zeit keine besondere Attraktivität.

Bei den 2764 Taufen, die in den Kirchenbuchduplikaten erfasst sind, werden 292 unterschiedliche Familiennamen und 203 unterschiedliche Geburtsnamen der Mütter genannt. Die Häufigkeit der Namensnennung ist jedoch höchst ungleich verteilt und drei Viertel der Taufen entfallen auf nur 15 Familiennamen. Die nachfolgende Tabelle nennt die häufigsten Namen und ihre Anzahl:

RangFamiliennameAnzahl der NennungenGeburtsname d. MutterAnzahl der Nennungen
1Schulz340Garske292
2Garske292Schulz286
3Neumann232Neumann203
4Schmidt170Schmidt154
5Kluck137Radke116
6Heymann129Heymann106
7Koltermann120Lück96
8Litfin117Litfin94
9Remer107Robek93
10Robek88Kluck87
11Manthey84Koltermann86
12Will82Wiese86
13Tetzlaff63Remer65
14Radke61Ziebarth65
15Ziebarth59Brieske59
Summe20811888
Tabelle 3: Die Schreibweise der Familiennamen wurde für diese Tabelle vereinheitlicht.

Die erstaunliche Übereinstimmung der beiden Listen weist darauf hin, dass Ehen vielfach innerhalb der zahlenmäßig doch recht kleinen Marzdorfer Pfarre geschlossen wurde. Die hohe Konzentration auf nur wenige Namen ist ein signifikantes Merkmal für eine alteingesessene Bevölkerung, die weitgehend abgeschieden von der Außenwelt lebte. Die Konzentration bei den Geburtsnamen der Mütter fällt dabei etwas geringer aus als die der Familiennamen. Bemerkenswert ist z. B. dass der Name Buske, der im benachbarten Knakendorf weit verbreitet war, bei den Geburtsnamen mit 41 Nennungen auf Rang 19 landet, während er bei den Familiennamen nur elfmal genannt wird (Rang 31). Auch der Name Brieske wird 59-mal als Geburtsname genannt, aber nur 22-mal als Familienname.

Die meisten Namen wirken auf den ersten Blick deutsch, was dazu geführt hat, dass viele ältere Chronisten von einer »rein deutschen« Bevölkerung in Marzdorf in Umgebung sprachen1Ein Beispiel ist Karl Hunger, der in den 1930er Jahren in seiner Geschichte und Volkskunde des Dorfes Brunk (Neuauflage: Köln 2021, S. 31) von einer »rein deutschen« Bevölkerung spricht. Ein anderes ist der Marzdorfer Pfarrer Rehbronn, der ebenfalls in den 1930er Jahren von einem »reindeutschen Gebiet« sprach. (Leo Rehbronn: Das Deutsch Kroner Land, wiederveröffentlicht in: Johannesbote, Rundbrief der Priester der Freien Prälatur Schneidemühl, Weihnachten 1962, S. 31).. Diese Behauptung mag allerdings ein Trugschluss sein, denn in den älteren Kirchenbüchern finden sich die gleichen Namen oft in einer ans Polnische angelehnten Schreibweise: Szulc, Garski, Neiman, Szmett, Klukoski, Radki … – Die Namen waren vermutlich deutsch-polnische Hybridformen und das gleiche mag für die Menschen gelten.

Bei der Häufigkeit der Familiennamen gab es auch zwischen den einzelnen Dörfern der Pfarre Marzdorf erhebliche Unterschiede. Die nachfolgende Tabelle nennt die sechs häufigsten Familiennamen in Brunk, Königsgnade, Lubsdorf sowie Marzdorf und gibt dazu den prozentualen Anteil an den Taufen im jeweiligen Dorf:

RangBrunkAnteil in %Königs-gnadeAnteil in %LubsdorfAnteil in %MarzdorfAnteil in %
1Heymann16,7Garske20,6Schulz31,6Neumann16,8
2Koltermann13,3Robek7,0Schmidt8,7Garske11,7
3Tetzlaff9,3Ziebarth6,4Garske8,6Schmidt8,8
4Neumann7,4Neumann5,9Will8,1Kluck8,0
5Kluck7,0Koplin4,7Manthey7,5Litfin7,6
6Radke6,3Will7,7Remer7,4Schulz7,6
Summe59,949,371,960,5
Tabelle 4: In jedem Dorf der Pfarre Marzdorf dominierte ein anderer Familiennamen.

Strukturell ähnlich, aber von nicht ganz so hohen Häufigkeiten geprägt war auch die Verteilung der Geburtsnamen der Mütter:

RangBrunkAnteil in %Königs-gnadeAnteil in %LubsdorfAnteil in %MarzdorfAnteil in %
1Heymann14,8Garske12,7Schulz25,0Neumann17,9
2Schulz12,7Lück9,1Garske9,7Schmidt10,5
3Koltermann9,9Robek6,8Schmidt7,0Garske10,2
4Garske8,9Radke6,4Wiese4,6Schulz6,2
5Tetzlaff7,0Ziebarth5,5Will4,6Litfin4,3
6Robek6,1Günterberg5,1Manthey4,4Lück4,1
Summe59,345,655,253,2
Tabelle 5: Auch bei den Geburtsnamen der Mütter stechen einzelne Namen deutlich heraus.

Beide Tabellen belegen die Annahme einer weitgehend abgeschlossenen, alteingesessenen Bevölkerung in der Marzdorfer Pfarre. Sie zeigen zudem, dass jedes Dorf einen eigenständigen sozialen Raum bildete. Die niedrigeren Zahlen von Königsgnade sind gewiss darauf zurückzuführen, dass das Dorf erst 1821 als Ausgründung aus Marzdorf entstanden war.

Die hohe Konzentration auf sehr wenige Namen führt bei der Familienforschung vielfach dazu, dass die knappen Einträge im Kirchenbuchduplikat nicht ausreichen, um eine bestimmte Person eindeutig zu identifizieren, zumal auch die aufgezeichneten Vornamen nur einen geringen Variantenreichtum aufweisen. Die nachfolgende Tabelle gibt die prozentuale Nennung der fünf häufigsten männlichen und weiblichen Vornamen bei den Täuflingen der Pfarre Marzdorf an:

RangVorname weiblichAnteil in %Vorname männlichAnteil in %
1Maria (selten: Marie)16,7Johann, Johannes11,2
2Anna (selten: Johanna)8,6Martin8,7
3Rosalia, Rosalie (selten: Rosa)8,6Michael6,4
4Apollonia6,7August6,0
5Catharina (selten: Katharina)4,1Joseph5,9
Summe44,338,2
Tabelle 6: Bei 82,5 aller Taufen fanden nur zehn Vornamen Verwendung.

Es verwundert nicht, dass in der traditionell frommen Marzdorfer Gemeinde christliche Vornamen vorherrschten. Die Beliebtheit der Namen Catharina und Michael kann sicherlich damit begründet werden, dass die Heilige Catharina das Patronzinium über die Marzdorfer Mutterkirche und der Heilige Michael das über die Filialkirche in Lubsdorf ausübte. Der Schutzheilige der Filialkirche in Brunk – der Heilige Jakob – fand hingegen nur bei 2,3 Prozent der Taufen Anklang, vielleicht weil die Gemeinde in Brunk verhältnismäßig klein war. Bei gut 40 Prozent der Taufen notierte der Pfarrer zwei oder mehr Taufnamen im Kirchenbuch; das war jedoch im Zeitraum von 1820 bis 1839 nur bei knapp 19 Prozent der Taufen der Fall, im Zeitraum von 1860 bis 1874 hingegen bei mehr als 60 Prozent. Ob es in der Gemeinde wirklich einen Trend zum Zweitnamen gab oder ob sich lediglich die Praxis der Übernahme ins Duplikat änderte, wissen wir freilich nicht. Bei Sterbeeinträgen und Heiraten gaben die Pfarrer häufig nur einen Vornamen an.

Erstaunlich ist, dass die patriotischen preußischen Vornamen Wilhelm und Friedrich (bei Knaben) oder Louise (bei Mädchen) in Marzdorf auch in dieser Zeit des nationalen Hochgefühls nur bei acht, sechs bzw. zwei Taufen Verwendung fanden. Auf den eher polnischen Vornamen Stanislaus wurden fünf Knaben getauft, drei Mädchen erhielten den Taufnamen Antonina, zwei hießen Victorina.

► Wird fortgesetzt.

Anmerkungen:

  • 1
    Ein Beispiel ist Karl Hunger, der in den 1930er Jahren in seiner Geschichte und Volkskunde des Dorfes Brunk (Neuauflage: Köln 2021, S. 31) von einer »rein deutschen« Bevölkerung spricht. Ein anderes ist der Marzdorfer Pfarrer Rehbronn, der ebenfalls in den 1930er Jahren von einem »reindeutschen Gebiet« sprach. (Leo Rehbronn: Das Deutsch Kroner Land, wiederveröffentlicht in: Johannesbote, Rundbrief der Priester der Freien Prälatur Schneidemühl, Weihnachten 1962, S. 31).

Die Pfarre Marzdorf 1823-1874 – Teil I

Die Duplikate der Kirchenbuchs der katholischen Pfarre Sankt Katharina in Marzdorf, die im Archiwum Państwowe in Koszalin verwahrt werden, wurden bereits im Oktober 2014 durch den Fotografen Leszek Ćwikliński digitalisiert. Seit dem Frühjahr dieses Jahr sind die 304 doppelseitigen Bilddateien, die Ćwikliński fertigte, auf dem genealogischen Web-Portal metryki.genbaza.pl öffentlich zugänglich. Ich habe die Tauf-, Begräbnis- und Hochzeitsinformationen der Digitalisate abgeschrieben und in eine Excel-Arbeitsmappe übertragen, die ich bei Interesse1Die Excel-Arbeitsmappe kann per Mail an t.soorholtz@gmail.com angefordert werden. zur Verfügung stelle. Die Kirchenbuch-Duplikate sind jedoch nicht nur eine wichtige genealogische Quelle, sondern auch für die regionalhistorische Forschung interessant, da sie umfangreiche demografische und soziologische Informationen enthalten.

In Preußen war die Führung der Kirchenbücher und ihrer Duplikate seit 1794 gesetzlich geregelt. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten bestimmte, dass jeder Pfarrer schuldig sei, »richtige Kirchenbücher zu halten« und darin alle »angezeigte Aufgebote, Trauungen, Geburten, Taufen, und Begräbnisse deutlich und leserlich einzuschreiben«2Von dem Pfarrer und dessen Rechten. In: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Zweyter Theil, Eilfter Titel. Band 4 der Druckauflage Berlin (Pauli) 1794², S 786. Das Landrecht legte ebenfalls fest, welche Angaben der Pfarrer zu welchem Ereignis einzutragen hatte, und es verpflichtete ihn, ein »Duplicat des Kirchenbuchs« zu halten, in dem der Küster »die von dem Pfarrer eingetragenen Vermerke getreulich abschreiben«3A. a. O., S. 786. Dort findet sich auch das folgende Zitat. sollte. Am Ende jeden Jahres war die Abschrift vom Pfarrer zu beglaubigen und das Duplikat dem zuständigen Gericht »verwahrlich« zu übergeben.

Die Marzdorfer Kirchenbuch-Duplikate decken die Jahre 1823 bis 1874 ab und wurden ursprünglich beim Amtsgericht in Märkisch Friedland verwahrt. Die vorhandenen Zweitschriften sind allerdings nicht vollständig: Die Jahre 1836 bis 1841 fehlen gänzlich, ebenso das Jahr 1848. Vom Jahr 1865 sind nur Taufen und Hochzeiten überliefert, die Begräbnisse fehlen. Bei den Hochzeitseinträgen des Jahres 1863 wurde eine Seite halb aus der Akte herausgerissen, was den Verlust von wenigstens vier Einträgen zur Folge hat.

Aus den überlieferten Schulakten4Die Acta Generalia betreffend die jährlichen Schulmusterungen im Decanat Dt. Crone der Königlichen Regierung zu Marienwerder liegen für die Jahre 1818 bis 1873 online bei familysearch.org als LDS-Filme 8206265 bis 8206267 vor.wissen wir, dass die Schullehrer der Marzdorfer Pfarre stets auch das Amt des Küsters und des Organisten ausübten, wofür ein zusätzliches jährliches Gehalt von sechs Reichstalern gezahlt wurde5Acta General. betr. die jährl. Schulmusterungen im Decanat Dt. Crone (1820 -1840) (Ost-Abt. Rep. A181 Nr. 7576). LDS-Film 008206266, 1967, Bild 495.. In den Jahren 1821 bis 1845 war Johann Neumann (* 1794; † 1859) Schullehrer in Marzdorf, von 1846 bis 1855 versah sein Sohn August (* 1819) das Amt, dem dann Hermann Wiese folgte. Dessen Lebensdaten sind unbekannt; wir wissen lediglich, dass Wiese 1896 noch Lehrer in Marzdorf war, denn in diesem Jahr wurde ihm der Adler der Inhaber des Hohenzollerschen Hausordens verliehen6Ordensverleihungen. Thorner Presse, 22. Januar 1896, S. [3]..

Dass die drei Schullehrer in ihrer Funktion als Küster tatsächlich die Kirchenbuch-Duplikate der Pfarre führten, erscheint freilich unwahrscheinlich. Auch ein ungeübtes Auge vermag zu erkennen, dass die Zweitschriften in mindestens sechs verschiedenen Handschriften vorliegen. Die erste Handschrift findet sich in den Jahren 1823 bis 1835, die zweite von 1842 bis 1859, die dritte 1860, die vierte 1861 bis 1863, die fünfte 1864 bis 1867 und die sechste von 1868 bis 1874. Diese Phasen passen nun viel eher zu den Amtszeiten der Marzdorfer Pfarrer als zu denen der Schullehrer. Der Verdacht liegt daher nahe, dass – abweichend von den Vorschriften des Landrechts – in Marzdorf die Pfarrer meist selbst das Duplikat des Kirchenbuches führten und nur zeitweilig eine dritte Person beauftragten. Diese dritte Person mag der jeweilige Küster gewesen sein.

Dieser Befund passt auch zu den wenigen Schriftproben, die zum Vergleich aus den Original-Kirchenbüchern zur Verfügung stehen. Auch diese Bücher sind inzwischen digitalisiert; die Digitalisate können jedoch nur am Archivort selbst, im Diözesanarchiv Koszalin-Kołobrzeg, eingesehen werden.

Anders als das Landrecht es vorsieht, bieten die Duplikate der Marzdorfer Kirchenbücher auch nicht immer eine »getreuliche Abschrift« des Originals. Zusätzlich zu einzelnen Übertragungsfehlern, wie sie nie auszuschließen sind, reduzierten die Verfasser der Duplikate vor allem zwischen 1842 und 1863 deutlich deren Informationsgehalt. Sie übernahmen aus dem Kirchenbuch nur die Informationen, die gesetzlich unbedingt gefordert waren, und ließen alle darüber hinausgehenden Angaben – die sich in den Originalen durchaus finden – weg.

In der Zeit von 1823 bis 1874 amtierten in Marzdorf die nachstehend aufgeführten sechs Pfarrer:

Vorname u. NameAmtszeit i. d. GemeindeGeburt (Jahr u. Ort)Priesterweihe (Jahr u. Ort)Tod (Jahr u. Ort)
Conrad Busse1821-18361780, Rose1808, Breslau1848, Schneidemühl
Johann Neumann1836-18401808, Knakendorf1834, Gnesennach 1877
Anton Katzer1840-18641807, Böhmen1837, Breslau1878, Tütz
Martin Steinke1864-18661831, Klausdorf1857, Gnesen1905, Klein Nakel
August Harski1866-18711832, Tütz1860, Posen1884, Swinemünde
Eduard Krefft1871-18971837, Zippnow1864, Posen1893, Marzdorf

Die Kirchenbuch-Duplikate der Jahre 1823 bis 1835 stammen gewiss aus der Hand des »Orths-Comendarius« Conrad Busse, denn dieser bestätigt auf der vierten Seite des Aktenfaszikels, er habe die Kopie selbst »angefertigt«. Busse führte die Bücher in den ersten beiden Jahren auf Deutsch, dann wechselte er zum Lateinischen. Mitten im Jahrgang 1825 änderte er zusätzlich die Form der Darstellung: Wurden die Ereignisse bislang linear notiert, so folgte nun eine tabellarische Darstellung, die er aber nur bis 1830 beibehielt. Bei allen Veränderungen in der Form zeichnen sich die Duplikate aus Busses Hand durch einen hohen Detailreichtum aus. So werden von 1825 bis 1829 bei Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen zusätzlich zur Ortsangabe auch die Hausnummern genannt, was den Nutzen deutlich erhöht. Busse ist auch der einzige Pfarrer, der stets ein Begräbnisdatum angab, dafür verzichtete er vom Sommer 1825 bis zum Ende des Jahres 1829 auf die Nennung des Sterbedatums.

Das Duplikat des Jahrgangs 1836 hätte bereits Johann Neumann dem Amtsgericht in Märkisch Friedland abliefern müssen – allein es fehlt ebenso, wie alle Zweitschriften aus seiner Amtszeit, die freilich in die Zeit des »Kirchenkampfes« mit dem preußischen Staat fiel. In seiner in den 1870er Jahren verfassten Pfarrchronik urteilte Pfarrer Krefft über Neumann:

»Als […] Kirchentrauer angeordnet wurde, hielt sich Neumann nicht daran. Gegen das Verbot stiftete er auch Mischehen und wurde deshalb nach der Rückkehr des Posener Erzbischofs bestraft. […] Er hinterließ den Kirchenbesitz sehr vernachlässigt und verpachtete das Kirchenland.«7E. J. Krefft: Aus der Pfarrchronik von Marzdorf. In: Das Archiv, Nr. 6, August 2020, S. 19.

Im Anschluss an Neumann übernahm Anton Katzer 1840 die Marzdorfer Pfarre, wurde jedoch – nach Kreffts Angabe8A. a. O., S. 20. – wegen des anhaltenden Kirchenkampfs erst im August 1843 staatlich anerkannt9Im Posener Kirchenkalender von 1842 – dem ersten seit 1838 – wird Anton Katzer als »Comendarius« in Marcinkow benannt und sein Amtsbeginn auf 1840 datiert. Johann Neumann wird hingegen als »Vicarius« in Święciechowa/Schwetzkau aufgeführt, ebenfalls mit dem Amtsbeginn 1840. Vermutlich war die Herabstufung zum Vikar die Strafe, von der Krefft spricht. Erst 1842 durfte Neumann wieder als Pfarrer, jetzt in Radomicko/Radomitz, wirken. Elenchus Universi Cleri Archi-Dioecesis Posnaniensis. 1842, S. 67 u. 69 und desgl. 1843, S. 62.. Am 1. Juli 1846 erging an Katzer von seinen Vorgesetzten in Tütz die Aufforderung, die »Kirchenbücher der zur Pfarre Marzdorf zugehörigen Orthschaften pro 1842 bis incl. 1845 baldgefälligst einreichen zu wollen«10Schreiben auf Seite 134 des Kirchenbuch-Duplikats.. Katzer lieferte daraufhin die Jahrgänge 1842 bis 1845 im Konvolut ab, musste aber bereits 1848 wieder zur Abgabe der Duplikate für 1846 und 1847 aufgefordert werden11Schreiben auf Seite 162 des Kirchenbuch-Duplikats.. Katzer führte während seiner gesamten Amtszeit die Duplikate entweder selbst oder durch einen Dritten knapp und ohne großen Aufwand in deutscher Sprache. Er verzichtete durchgängig auf die Angabe von Trauzeugen bei den Heiratseinträgen und von Geburtsnamen oder den Namen der Mütter bei Begräbniseinträgen. Während er bei den Taufen eine lineare Darstellung wählte, nutzte er für Sterbefälle und Hochzeiten eine tabellarischer Form. Das Fehlen des Jahrgangs 1848 fällt zweifellos in seine Verantwortung. Nach Kreffts Urteil war »Katzers Hauptanliegen […] die Landwirtschaft und die Vermehrung des Besitzes«12Krefft, a. a. O., S. 20, der Pfarre.

Ausschnitt aus dem Kirchenbuch.
Siegel und Unterschrift Katzers aus dem Jahr 1853.

Katzers Nachfolger war Martin Steinke, der in Marzdorf nur von Juli 1864 bis November 1865 amtierte. In Steinkes Amtszeit wurden die Duplikate durchgängig in tabellarischer Form geführt und fallen dadurch noch etwas knapper aus als zur Zeit Katzers. Es fehlen nun die Orts- und Standesangaben zu den Trauzeugen und alle Angaben zu den Brauteltern.

Für die Richtigkeit des Duplikat des Jahres 1865 zeichnete bereits August Harski verantwortlich, der die Pfarre jedoch erst im März 1866 übernahm13Wie aus dem Duplikat hervorgeht, verwaltete Eduard Krefft, der 1864 zum Priester geweiht wurde, von November 1865 bis März 1866 vertretungsweise die Marzdorfer Pfarre.. Harski führte die Bücher offenbar selbst und setzte dabei die sparsame tabellarische Kirchenbuchführung von Martin Steinke unverändert fort. Er hatte zusätzlich die Eigentümlichkeit, den Familiennamen »Harske« immer in »Harski« zu verändern, ließ jedoch alle anderen auf »-ke« endenden Familiennamen (Radke, Garske, Buske etc.) unangetastet.

Von 1871 bis September 1874 war Eduard Krefft für die Führung der Kirchenbücher zuständig. Grundsätzlich behielt auch Krefft die knappe tabellarische Darstellung von Steinke bei, erweiterte aber die Angaben in den Sterbebüchern um die Namen der Mütter bei verstorbenen Kindern und der Geburtsnamen von Witwen. In den Heiratsbüchern gab er auch die Trauzeugen an. Mit der Einführung der Standesamtsregister im Oktober 1874 enden die Kirchenbuchduplikate; die letzte Taufe ist am 29. September, der letzte Todesfall am 18. September und die letzte Heirat am 20. September 1874 registriert.

Insgesamt enthalten die Kirchenbuchduplikate 2764 Taufen und 1556 Todesfälle, die wie folgt auf Ortschaften und Wohnplätze verteilt sind:

OrtTaufenTodesfälle
Alt Prochnow134
Balster1
Böthin10752
Brunk474279
Dreetz5832
Fischerkrug1
Grünbaum82
Henkendorf145
Königsgnade471273
Langhof11
Lubsdorf744456
Lubshof129
Marienthal3
Märkisch Friedland4
Marzdorf (und Abbau Iretz)775422
Neu Prochnow6315
Neukrug4
Nierosen11
Petznick2
Spechtsdorf1
Weißer Krug1
Wilhelmshof1
Wordel2
Zadow21
Tabelle 1: Örtliche Verteilung von Taufen und Todesfällen. Bei zwei Taufen und drei Todesfällen ist kein Ort angegeben.

Außerdem sind in den Duplikaten 569 Hochzeiten aufgeführt, die in der Pfarrkirche von Marzdorf, in den Filialen von Brunk und Lubsdorf oder in Kirchen der Umgebung begangen wurden. Der Ort der Hochzeit ist in den Duplikaten nur bis Ende 1864 und zudem in verschiedener Form (Herkunftsort des Bräutigams oder der Braut, Trauort) angegeben, was eine statistische Auswertung erschwert. Marzdorf wird jedoch bei 176 Trauungen als Ort der Hochzeit genannt, und in weiteren 40 Fällen, in denen kein Hochzeitsort aufgeführt ist, stammt die Braut aus Marzdorf, so dass die Hochzeit – nach den Gebräuchen der Zeit – ebenfalls dort stattgefunden haben dürfte. Wenn wir die weiteren Orte analog behandeln, kommen wir zu folgendem Ergebnis, das immerhin 554 Hochzeiten erfasst:

OrtIm Duplikat als Hochzeitsort genanntHerkunftsort der Braut bei fehlendem Hochzeitsortinsgesamt
Böthin10717
Brunk721688
Dreetz437
Lubsdorf11631147
Königsgnade383169
Marzdorf17640216
Neu Prochnow11
Tabelle 2: Bei insgesamt 10 Hochzeiten werden die Hochzeitsorte Klein Nakel, Mellentin, Ruschendorf, Schulzendorf oder Tütz genannt.

Im statistischen Mittel wurden in der Pfarre Marzdorf jährlich 63,1 Kinder geboren und 13 Ehen geschlossen, während 36,4 Menschen starben. Die untenstehende Grafik zeigt die tatsächliche Verteilung der im Duplikat erfassten Ereignisse im Zeitstrahl:

Grafische Darstellung von Taufen, Begräbnissen und Hochzeiten in Marzdorf

Wie die Grafik zeigt, stiegen alle drei Kurven – wenn auch in unterschiedlichem Maß – ab etwa 1850 tendenziell an. Wurden im Mittel der Jahre 1823 bis 1832 in der Pfarre Marzdorf 51 katholische Kinder geboren, so waren es im Jahrzehnt 1863 bis 1872 75,5 – das ist ein Zunahme um 48 Prozent. Ganz ähnlich ist die Entwicklung bei den Todesfällen: Starben im Mittel der Jahre 1823 bis 1832 29,9 Menschen, so waren es im Jahrzehnt bis 1873 42,9 – was immerhin eine Zunahme um 43,5 Prozent bedeutet. Die Zahl der Heiraten nahm ebenfalls von durchschnittlich 10,1 pro Jahr auf 13,8 – also um 36,6 Prozent – zu. Die Entwicklung verlief jedoch nicht gleichmäßig, sondern in Zickzacklinien mit Ausschlägen und Tiefpunkten. Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Todesfälle im Untersuchungszeitraum dreimal (1832, 1851 und 1868) die Zahl der Taufen übertraf14Vermutlich war das auch im Jahr 1848 der Fall, über das uns aber keine Unterlagen vorliegen. Im September 1848 brach in Marzdorf und Lubsdorf eine Cholera-Epidemie aus, die insgesamt 27 Todesopfer forderte. Siehe dazu die Schilderung bei Dr. Mecklenburg: Was vermag die Sanitäts-Polizei gegen die Cholera, Berlin 1854, S.8.. In den Kriegsjahren 1866 und 1871 fielen hingegen die Zahl der Hochzeiten auf Tiefstwerte.

Während die Kirchenbuchduplikate für den steilen Anstieg der Sterberate im Jahr 1832 keine eindeutige Ursache erkennen lassen, war im Jahr 1851 eine Scharlachinfektion und im Jahr 1868 das Zusammentreffen mehrerer Infektionskrankheiten der Auslöser. Im Jahr 1851 starben acht Kinder an »Scharlachfieber«, davon vier in Brunk, drei in Marzdorf und eins in Böthin. Im Jahr 1868 starben 15 Kinder15Im Kirchenbuchduplikat werden sechs Sterbefälle in Marzdorf, drei in Lubsdorf und je zwei in Alt-Prochnow, Böthin und Brunk auf Keuchhusten zurückgeführt. an Keuchhusten und zwölf Kinder an Scharlach16Das Kirchenbuch-Duplikat meldet sechs Todesfälle aufgrund von Scharlach in Königsgnade, drei in Lubsdorf und drei in Marzdorf. Ein Ausbruch von Typhus forderte im Jahr 1868 außerdem neun erwachsene Opfer in Lubsdorf und Marzdorf.. Überhaupt ist die Kindersterblichkeit dieser Zeit erschreckend: Unter den 1556 Todesfälle, die das Kirchenbuchduplikat auflistet, betrafen rund 860 (oder 55,3 Prozent) Kinder und Heranwachsende unter 14 Jahren. Dieser Zustand besserte sich auch nicht im Verlaufauf der Zeit. Zwar sank der prozentuale Anteil der Kinder an allen Verstorbenen von 53,9 Prozent in den 1820er und 1830er Jahren auf 52,6 Prozent in den 1840er und 1850er Jahren ab, aber in den 1860er und 1870er Jahren erreichte er einen Spitzenwert von 59 Prozent.

Mehr als die Hälfte der verstorbenen Kindern, die in den Kirchenbuch-Duplikaten aufgeführt sind, waren Kleinkinder im Alter bis zu einem Lebensjahr. In 38 Fällen wurden Kinder bereits tot geboren oder starben an den Folgen der Geburt; in weiteren 138 Fällen notierten die Pfarrer im Kirchenbuch keine Krankheit, sondern führten den Tod auf »Schwäche« (auch Debilitas) oder Kraftlosigkeit (Infirmitate) zurück. Die nachfolgende Tabelle gibt die Sterblichkeit von Kindern bis zu einem Lebensjahr im Verhältnis zur Zahl der Taufen (〰) für die einzelnen Orte an:

Zahl Brunk Königsgnade
Lubsdorf Marzdorf
† ≤ 1 % † ≤ 1 % † ≤ 1 % † ≤ 1 %
1823-35 119 22 18,5 112 22 19,6 202 44 21,8 153 32 21,0
1824-59 162 28 17,3 175 23 13,1 291 61 20,9 304 46 15,1
1860-74 193 34 17,6 184 32 17,4 263 36 13,7 318 39 12,2
Gesamt 474 84 17,7 471 77 16,3 756 141 18,7 775 117 15,1

Die nächste Tabelle vergleicht die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in der Marzdorfer Pfarre mit der in Preußen17Die Daten für Preußen wurden entsprechend dem Bestand der Kirchenbuch-Duplikate berechnet nach: J. Sensch: Entwicklung der Säuglingssterblichkeit nach Geschlecht in Preußen (1816-1939). Internetadresse: https://histat.gesis.org, 2010.insgesamt:

ZeitPfarre MarzdorfPreußen
TaufenVerstorbene ≤ 1 JahrSterblichkeit in ProzentSterblichkeit in Prozent
1823-3566613420,118,0
1842-59102516816,419,1
1860-74107315914,821,4
Gesamt276446215,119,4
Tabelle 3 und 4: In den Zahlen von Lubsdorf ist Lubshof mit eingeschlossen. Da für Preußen nur Prozentwerte vorliegen, wurde jeweils der Mittelwert berechnet.

Die Tabelle verdeutlicht gegenläufige Tendenzen: Während die Säuglingssterblichkeit in Preußen – wohl bedingt durch die Industrialisierung – bis 1873 zunahm, ging sie im vorwiegend agrarisch geprägten Marzdorf allmählich zurück. Die Lebenserwartung von Neugeborenen, die in Marzdorf in den 1820er Jahren im Durchschnitt schlechter war als in Preußen überhaupt, verbesserte sich und übertraf bereits um 1850 das Niveau des Gesamtstaats. Dennoch verstarb auch in der Marzdorfer Pfarre jedes siebte Kind vor dem Erreichen des ersten Lebensjahres und der Anteil der Kinder an der Gesamt­zahl der Verstorbenen nahm zu.

Nicht jeder starb allerdings jung: Die Kirchenbuch-Duplikate führen auch 54 Menschen auf, die erst im Alter von 80 Jahren oder mehr starben. Die älteste Einwohnerin der Pfarre war die Witwe Anna Heymann, die am 30. Juli 1825 mit 104 Jahren im Marzdorfer Armenhospital18Vom Armenhospital in Marzdorf berichtete Das Archiv in Heft Nr. 7, das im September 2020 erschien. an Altersschwäche verstarb. Pfarrer Busse vermerkte das Rekordalter groß in den Büchern; es bleibt allerdings ein Rätsel, woher er es kannte, denn die ältesten Kirchenbücher wurden bei einem Brand 1759 zerstört. Immerhin 95 Jahre alt wurde nach den Büchern der Kossät Peter Harske, der 1823 in Königsgnade starb, 94 Jahre zählte die Witwe Katharina Schulz in Lubsdorf, die 1847 ebenfalls im Alter von 94 Jahren zu Grabe getragen wurde, und der Altsitzer Johann Robek aus Königsgnade verstarb 1866 im Alter von 93 Jahren.

Insgesamt verzeichnete die Region um Marzdorf trotz der hohen Säuglingssterblichkeit im Zeitraum von 1823 bis 1874 einen Bevölkerungsgewinn von rund 1200 Personen.. Dieser Gewinn konnte allerdings nicht vollständig im Gebiet selbst realisiert werden, denn die katholische Bevölkerung wuchs zwischen 1814 und 1872 nur um etwa 700 Menschen (von etwa 1000 auf rund 170019Für 1814 nennt Pfarrer Krefft die Zahl von 961 katholischen und 54 evangelischen Einwohnern in der Pfarre. (Pfarrchronik, a. a. O., S. 19). Im Jahr 1872 gehörten der katholischen Pfarrgemeinde in Marcinków nach dem Ordo Officii Divini Recitandi, Sacrique Peragendi ad Usum Almae Ecclesiae Metropolitanae et Archidioecesis Posnaniensis Pro Anno Domini MDCCCLXXII (Posnaniae 1872, S. 46) 1710 »Seelen« an, von den 298 zur Filiale Brunk und 437 zur Filiale Lubsdorf gehörten.) an. Trotz ausgesprochen geringer Bevölkerungsdichte verlor die Pfarre offenbar rund 500 Personen durch Abwanderung.

► Wird fortgesetzt.

Anmerkungen:

  • 1
    Die Excel-Arbeitsmappe kann per Mail an t.soorholtz@gmail.com angefordert werden.
  • 2
    Von dem Pfarrer und dessen Rechten. In: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Zweyter Theil, Eilfter Titel. Band 4 der Druckauflage Berlin (Pauli) 1794², S 786.
  • 3
    A. a. O., S. 786. Dort findet sich auch das folgende Zitat.
  • 4
    Die Acta Generalia betreffend die jährlichen Schulmusterungen im Decanat Dt. Crone der Königlichen Regierung zu Marienwerder liegen für die Jahre 1818 bis 1873 online bei familysearch.org als LDS-Filme 8206265 bis 8206267 vor.
  • 5
    Acta General. betr. die jährl. Schulmusterungen im Decanat Dt. Crone (1820 -1840) (Ost-Abt. Rep. A181 Nr. 7576). LDS-Film 008206266, 1967, Bild 495.
  • 6
    Ordensverleihungen. Thorner Presse, 22. Januar 1896, S. [3].
  • 7
    E. J. Krefft: Aus der Pfarrchronik von Marzdorf. In: Das Archiv, Nr. 6, August 2020, S. 19.
  • 8
    A. a. O., S. 20.
  • 9
    Im Posener Kirchenkalender von 1842 – dem ersten seit 1838 – wird Anton Katzer als »Comendarius« in Marcinkow benannt und sein Amtsbeginn auf 1840 datiert. Johann Neumann wird hingegen als »Vicarius« in Święciechowa/Schwetzkau aufgeführt, ebenfalls mit dem Amtsbeginn 1840. Vermutlich war die Herabstufung zum Vikar die Strafe, von der Krefft spricht. Erst 1842 durfte Neumann wieder als Pfarrer, jetzt in Radomicko/Radomitz, wirken. Elenchus Universi Cleri Archi-Dioecesis Posnaniensis. 1842, S. 67 u. 69 und desgl. 1843, S. 62.
  • 10
    Schreiben auf Seite 134 des Kirchenbuch-Duplikats.
  • 11
    Schreiben auf Seite 162 des Kirchenbuch-Duplikats.
  • 12
    Krefft, a. a. O., S. 20,
  • 13
    Wie aus dem Duplikat hervorgeht, verwaltete Eduard Krefft, der 1864 zum Priester geweiht wurde, von November 1865 bis März 1866 vertretungsweise die Marzdorfer Pfarre.
  • 14
    Vermutlich war das auch im Jahr 1848 der Fall, über das uns aber keine Unterlagen vorliegen. Im September 1848 brach in Marzdorf und Lubsdorf eine Cholera-Epidemie aus, die insgesamt 27 Todesopfer forderte. Siehe dazu die Schilderung bei Dr. Mecklenburg: Was vermag die Sanitäts-Polizei gegen die Cholera, Berlin 1854, S.8.
  • 15
    Im Kirchenbuchduplikat werden sechs Sterbefälle in Marzdorf, drei in Lubsdorf und je zwei in Alt-Prochnow, Böthin und Brunk auf Keuchhusten zurückgeführt.
  • 16
    Das Kirchenbuch-Duplikat meldet sechs Todesfälle aufgrund von Scharlach in Königsgnade, drei in Lubsdorf und drei in Marzdorf. Ein Ausbruch von Typhus forderte im Jahr 1868 außerdem neun erwachsene Opfer in Lubsdorf und Marzdorf.
  • 17
    Die Daten für Preußen wurden entsprechend dem Bestand der Kirchenbuch-Duplikate berechnet nach: J. Sensch: Entwicklung der Säuglingssterblichkeit nach Geschlecht in Preußen (1816-1939). Internetadresse: https://histat.gesis.org, 2010.
  • 18
    Vom Armenhospital in Marzdorf berichtete Das Archiv in Heft Nr. 7, das im September 2020 erschien.
  • 19
    Für 1814 nennt Pfarrer Krefft die Zahl von 961 katholischen und 54 evangelischen Einwohnern in der Pfarre. (Pfarrchronik, a. a. O., S. 19). Im Jahr 1872 gehörten der katholischen Pfarrgemeinde in Marcinków nach dem Ordo Officii Divini Recitandi, Sacrique Peragendi ad Usum Almae Ecclesiae Metropolitanae et Archidioecesis Posnaniensis Pro Anno Domini MDCCCLXXII (Posnaniae 1872, S. 46) 1710 »Seelen« an, von den 298 zur Filiale Brunk und 437 zur Filiale Lubsdorf gehörten.

Oberhofprediger Dryander in Marzdorf

Durch Zufall fiel mir kürzlich eine Ansichtskarte in die Hände, die am 13. Juni 1921 aus Tütz nach Dramburg in der Neumark versandt wurde1Die Karte aus dem Verlag von F. Dilling in Tütz/Wpr. wurde im Januar 2021 bei allegro.pl versteigert. Der Barbier Fritz Dilling führte in Tütz am Markt ein Geschäft, in dem er auch Drogeriewaren anbot. Vermutlich ist er der Vater des Empfängers.. Empfänger war Hans Dilling, der das evangelische Lehrerseminar in Dramburg besuchte und dort in der »Seminar Stube I« wohnte. Mit der Karte luden die in Tütz lebenden Eltern den Sohn ein, sie am kommenden Sonntag, den 19. Juni nach Marzdorf zu begleiten, da »der Oberhofprediger Dryander im Park zu Marzdorf wie im Vorjahr eine Andacht« abhalten werde. Der evangelische K.G.V. – wohl Kirchengesangsverein – aus Tütz werde teilnehmen und »im Anschluss daran einen Ausflug am Mariannensteig« machen. Der Sohn könne dann über Friedland »mit dem Frühzug« nach Dramburg zurückkehren.

Vorder- und Rückseite der Ansichtskarte an Hans Dilling mit dem Poststempel 13. Juni 1921

Es ist bekannt, dass sich Ernst von Dryander, der Oberhofprediger des letzten deutschen Kaisers, im Sommer 1920 in Marzdorf aufhielt. Ein Brief, den Dryander am 18. Juni 1920 von Marzdorf aus an die Kaiser-Gemahlin Auguste Viktoria im niederländischen Doorn richtete, wurde von Walter Kähler bereits 1923 auszugsweise veröffentlicht2Walter Kähler: Ernst von Dryander. Ein Lebens- und Charakterbild mit drei seiner letzten Predigten und Briefen an die deutsche Kaiserin in Doorn, Berlin (Mittler) 1923, Seite 80 f.. Wer war Ernst von Dryander und welche Beziehung hatte er nach Marzdorf?

Ernst von Dryander wurde 1843 in Halle geboren und studierte dort und in Tübingen Theologie. Nach der Priesterausbildung im Berliner Domkandidatenstift durchlief er mehrere Pfarrstellen, bis er 1882 Pfarrer der Dreifaltigkeitskirche in Berlin wurde. 1892 folgte die Berufung zum Generalsuperintendent der Kurmark und 1898 zum kaiserlichen Oberhofprediger. Dryander gehörte zu den engsten Vertrauten von Wilhelm II., den er bereits aus dessen Studentenzeit in Bonn kannte und der ihn 1918 in den erblichen Adelsstand erhob. Das Vertrauensverhältnis blieb auch nach der Abdankung des Kaisers bestehen: Dryander weihte im Mai 1920 den Exilwohnsitz Haus Doorn bei Utrechtse Heuvelrug und leitete die Beerdigungsfeierlichkeiten der früheren Kaiserin Auguste Viktoria im April 1921 in Potsdam. Auch von seiner Gesinnung her blieb von Dryander, der im September 1922 starb, Monarchist. So sah er in der Abdankung des letzten Hohenzollern-Königs »ein Martyrium eines schuldlosen Leidens für die Sünden des Volkes«3Bernd Andresen: Ernst von Dryander, Eine biographische Studie, Berlin, New York (de Gruyter) 1995, S. 379.. Ernst von Dryander war der Vater des DNVP-Politikers Gottfried von Dryander (1876-1951).

Die Beziehung des Oberhofpredigers zum Gut in Marzdorf war gewiss über Hermann Franz Grüneisen (1872-1945) zustande gekommen, der 1906 Emmy Mariane Guenther, die älteste Tochter des Marzdorfer Gutsbesitzers Richard Guenther, geheiratet hatte. Ernst von Dryander war ein Onkel Grüneisens, dessen Mutter Elisabeth eine Schwester des Oberhofpredigers. Hermann Franz Grüneisen war nach der Revolution 1918 als Regierungsrat aus dem Staatsdienst ausgeschieden, weil ihm die neuen republikanischen Verhältnisse nicht behagten. Er sattelte auf die Landwirtschaft um und übernahm das Gut Wutzig aus dem Familienbesitz der Guenthers. Richard Guenther hingegen kehrte im Jahr 1920 aus Wutzig – wo er seit 1877 gelebt hatte – nach Marzdorf zurück. Nach den Familienerinnerungen übernahm er keine öffentliche Ämter mehr, sondern engagierte sich lediglich im Gemeinderat der evangelischen Kirche in Tütz. Wir können wohl davon ausgehen, dass Richard Guenther dem Onkel seines Schwiegersohn nicht nur den Park in Marzdorf für die beiden Andachten der Jahre 1920 und 1921 zur Verfügung stellte, sondern auch dessen monarchistische Gesinnung teilte.

Über die Inhalte und den Ablauf von Dryanders Andachten ist freilich nichts bekannt, da kein Jahrgang der Deutsch Kroner Tageszeitungen das Jahr 1945 überdauerte. Wir können nur mutmaßen, dass der frühere Oberhofprediger, der ein zündender Prediger war, über die Zukunft Deutschlands und der evangelischen Kirche sprach, wie er es in dieser Zeit sehr oft tat4Siehe dazu das Bändchen Ernst von Dryander: Deutsche Predigten aus den Jahren vaterländischer Not [Hrsg: Carl Grüneisen], Halle/Saale (Müller), 1923.. Leider kennen wir auch nicht die Reaktion der überwiegend katholischen Bevölkerung in Marzdorf auf die Andachtsserie im Gutspark. Ebensowenig ist über das Verhältnis Dryanders zur katholischen Geistlichkeit in Tütz und Umgebung überliefert. Dryander war auch in jener Zeit noch ein wichtiger Repräsentant der preußischen evangelischen Kirche und Tütz seit dem Dezember 1920 Sitz einer apostolischen Delegatur. Gab es ein Treffen zwischen ihm und Prälat Dr. Weimann? Wir wissen es nicht.

Der Ansichtskarte an Hans Dilling können wir jedoch entnehmen, dass »gestern« – also vermutlich am Sonntag, 12. Juni 1921 – ein Kriegerdenkmal in Stibbe eingeweiht wurde. Auch Stibbe gehörte damals zum Besitz der Guenthers. Die Säule zum Andenken an die »gefallenen Helden« steht heute wieder in der Gemeinde in Zdbowo. An ihrem Sockel heißt es: »In Treue fest«; das war in der Zeit der Weimarer Republik der Wahlspruch der deutschen Monarchisten.

»In Treue fest.« Das Denkmal in Zdbowo heute.

Anmerkungen:

  • 1
    Die Karte aus dem Verlag von F. Dilling in Tütz/Wpr. wurde im Januar 2021 bei allegro.pl versteigert. Der Barbier Fritz Dilling führte in Tütz am Markt ein Geschäft, in dem er auch Drogeriewaren anbot. Vermutlich ist er der Vater des Empfängers.
  • 2
    Walter Kähler: Ernst von Dryander. Ein Lebens- und Charakterbild mit drei seiner letzten Predigten und Briefen an die deutsche Kaiserin in Doorn, Berlin (Mittler) 1923, Seite 80 f.
  • 3
    Bernd Andresen: Ernst von Dryander, Eine biographische Studie, Berlin, New York (de Gruyter) 1995, S. 379.
  • 4
    Siehe dazu das Bändchen Ernst von Dryander: Deutsche Predigten aus den Jahren vaterländischer Not [Hrsg: Carl Grüneisen], Halle/Saale (Müller), 1923.