Regionale Wirtschaft 1904 und 1913

Durch Zufall fand ich im Internet zwei Ausgaben des Adressbuchs aller Länder der Erde der Kaufleute, Fabrikanten, Gewerbetreibenden, Gutsbesitzer etc. für die preußische Provinz Westpreußen. Das eine Buch stammt aus dem Jahr 1904 (10. Auflage), das andere aus dem Jahr 1913 (11. Auflage). Beide Adressbücher erschienen »unter Benutzung amtlicher Quellen« im Verlag von C. Leuchs in Nürnberg, der nur bis zum Ersten Weltkrieg bestand.

In der 10. Auflage der Gewerbeadressbuchs aus dem Jahr 1904 finden sich weder die Dörfer Brunk, Lubsdorf noch Königsgnade. Nur Marzdorf ist aufgeführt – und zwar mit folgendem Eintrag:

Marzdorf – Dorf, 744 Einwohner, Amtsgericht Märk.-Friedland, Landgericht Schneidemühl, Bahnhof Tütz, hat Post- und Telegrafenamt. Gasthaus Garske — Neumann; Bankgeschäft Marzdorfer Spar- und Darlehnskassen-Verein eGmuH; Gutsbesitz Rittergut [mit] Branntweinfabrik, Holzsägewerk, Stärkefabrik und Ziegelei: Witwe Marianna Günther’s Erben Verwalter Hugo Schildt Oberleutnant a. D.1Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 10. Auflage 1904-1908, Nürnberg o. J, S. 201. Abkürzungen wurden aufgelöst.

Schon dieser Eintrag ist interessant, verweist er doch auf die kurze Geschichte des Marzdorfer Spar- und Darlehnskassenvereins – eingetragene Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht – der am 6. Januar 1897 in Marzdorf gegründet wurde, »um die Verhältnisse der Vereinsmitglieder in jeder Beziehung zu bessern«, wie es in der Satzung heißt, die am 16. Dezember im Deutschen Reichs-Anzeiger veröffentlicht wurde2Deutscher Reichs-Anzeiger, 6. Beilage zu Nr. 17, vom 20. Januar 1897.. Vorstandsmitglieder des Vereins waren der Marzdorf Propst Gerth, der Marzdorfer Gastwirt E. Neumann (siehe oben), der Besitzer Josef Robeck in Königsgnade, der Lehrer Theuß in Brunk und der Besitzer A. Lange in Lubsdorf.

Ähnliche genossenschaftliche Spar- und Darlehnskassen gab es auch an anderen Orten im Kreis (z. B. Mellentin), denn die schon in den 1840er Jahren begründete Sparkasse in Deutsch Krone richtete sich vornehmlich an die begüterteren protestantischen Gewerbetreibenden. Die eher katholisch orientierte Marzdorfer Kasse trug sich jedoch offensichtlich nicht und wurde bereits am 28. Mai 1911 wieder aufgelöst3Deutscher Reichs-Anzeiger, 6. Beilage zu Nr. 137, vom 13. Juni 1911..

Ungleich ergiebiger ist die 11. Auflage des Adressbuches von 1913, in der sich auch Einträge zu Brunk, Lubsdorf und selbst Königsgnade finden. Da von einem plötzlichen Wirtschaftsaufschwung in der Region nichts bekannt ist, sind die zusätzlichen Einträge wohl einer größeren Bearbeitungstiefe des Nürnberger Verlages geschuldet. Hier die Einträge in alphabetischer Folge:

Brunk – Dorf, 308 Einwohner, Amtsgericht Märk.-Friedland, Landgericht Schneidemühl, Bahnhof Märk.-Friedland, Post- und Telegrafenamt Marzdorf. Gasthaus und Spezereiwarenhandel: Brieske Klem. — Radke Felix; Molkerei: Timm Theob.; Schmiede: Lange W. — Schulz Lor.; Schneider: Sydow Frz.; Schuhmacher: Breuer Joh. — Dobberstein Joh.; Stellmacher: Stein H.; Tischler: Heymann M.4Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 172a. Abkürzungen wurden aufgelöst.
Königsgnade – Dorf, 352 Einwohner, Amtsgericht Märk.-Friedland, Landgericht Schneidemühl, Bahnhof Tütz, Post- und Telegrafenamt Marzdorf. Gasthaus: Rohbeck Joh., Schmied: Schulz Frz.; Schneider: Berent Mart.; Schuhmacher: Gehrke Joh.; Stellmacher: Ganolowske J.; Tischler: Neumann P. — Robeck Frz.5Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 178a. Abkürzungen wurden aufgelöst.
Lubsdorf – Dorf, 446 Einwohner, Amtsgericht Deutsch-Krone, Landgericht Schneidemühl, Bahnhof Tütz, Post- und Telegrafenamt Marzdorf. Gasthaus und Spezereiwarenhandel: Heymann Frz.; Bienenzüchter: Munthey Jos.; Gutsbes.: Lunge Aug.; Korbmacher: Garske Aug.; Schmied: Schulz F.; Schneider: Schulz A.; Schuhmacher: Wellnitz M. — Will P.; Stellmacher: Schmit, Joh. — Schulz M.6Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 180a. Abkürzungen wurden aufgelöst.

Im Lubsdorfer Eintrag gibt es einiges zu korrigieren. Natürlich hieß der Bienzüchter Josef Manthey und der Gutsbesitzer (der 1897 auch zu den Begründer des Sparvereins gehörte) August Lange. Der Stellmacher im Dorf war Johann Schmidt. Die Vielfalt dieser Angaben ist jedoch fazinierend. Die Dörfer waren zu dieser Zeit eigenständige Wirtschaftsräume mit Gasthäusern, Schmieden, Stellmachereien, Schneidern und Schustern. In Brunk gab es sogar eine Molkerei, in Lubsdorf einen Korbmacher-Betrieb und einen gewerblichen Bienen-Züchter. Es erstaunt, dass der Eintrag zu Marzdorf nicht diese Detailtiefe ausweist. Er lautet 1913:

Marzdorf – Dorf und Gutsbezirk, 702 Einwohner, Amtsgericht Märk.-Friedland, Landgericht Schneidemühl, Bahnhof Tütz, hat Post- und Telegrafenamt. Gasthaus Garske — Neumann; Gutsbesitz Rittergut [mit] Branntweinbrennerei: Guenther Rich & Arnold.7Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 181a. Abkürzungen wurden aufgelöst.

Der Sparverein ist also (wie erwartet) entfallen, das Gut wurde vererbt und steht nun ohne Stärkefabrik, Sägewerk und Ziegelei dar. Ob das richtig ist? Im Deutschen Reichs-Adressbuch für Industrie, Gewerbe, Handel, Landwirtschaft von 1930 werden die Flockenfabrik und die Ziegelei jedenfalls wieder aufgeführt8Deutsches Reichs-Adressbuch …, Band IV, Berlin (Mosse), 1930, S. 8108.. In diesem Adressbuch, das in gewisser Weise die Nachfolge des Leuchs antrat, fehlen dafür die Dörfer Königsgnade und Lubsdorf komplett und Brunk ist auf die beiden Gasthöfe geschrumpft. Vielleicht als Ausgleich findet sich nun Alt-Prochnow, das weder 1904 noch 1913 im Gewerbeadressbuch auftauchte. Man soll wohl nicht alles glauben, was in Büchern steht …

Anmerkungen:

  • 1
    Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 10. Auflage 1904-1908, Nürnberg o. J, S. 201. Abkürzungen wurden aufgelöst.
  • 2
    Deutscher Reichs-Anzeiger, 6. Beilage zu Nr. 17, vom 20. Januar 1897.
  • 3
    Deutscher Reichs-Anzeiger, 6. Beilage zu Nr. 137, vom 13. Juni 1911.
  • 4
    Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 172a. Abkürzungen wurden aufgelöst.
  • 5
    Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 178a. Abkürzungen wurden aufgelöst.
  • 6
    Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 180a. Abkürzungen wurden aufgelöst.
  • 7
    Leuchs Adressbuch …, Bd. 11a, Provinz Westpreußen, 11. Auflage 1913, Nürnberg o. J, S. 181a. Abkürzungen wurden aufgelöst.
  • 8
    Deutsches Reichs-Adressbuch …, Band IV, Berlin (Mosse), 1930, S. 8108.

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