Kinderland-Verschickung 1938

Es ist schon mehrere Jahre vergangen, seit das folgende E-Mail mich erreichte:

»Guten Tag, ich suche seit eh und je einen Kontakt zu der Familie Martin Radke aus Königsgnade zu bekommen. – Es war im Mai 1938, als ich bei dieser Familie für mehrere Wochen in der Kinder-Landverschickung war. Gerne erinnere ich mich daran. Auf meinem Adresszettel stand Martin Radtke, durchgestrichen Radke. Die Familie hatte einen Bauernhof mit 130 Morgen Land, es gab zwei kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Der Bruder von Martin hieß Paul. Die Magd hieß Maria, der Knecht Karl. Mein kleines Zimmer war auf dem Dachboden mit einer Zwischenwand zu Maria. Sonntags fuhren wir mit einer wunderschönen Pferdekutsche nach Marzdorf in die Kirche. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir weiterhelfen könnten.«

▹ E-Mail von Franz Kremer an mich, Juni 2006

Das E-Mail war ein Volltreffer – und zwar für beide Seiten. Denn der Bauer Martin Radke ist mein Großvater, und natürlich interessierte es mich, von einem Augenzeugen zu erfahren, wie es 1938 in Königsgnade aussah. Ich blieb also in Kontakt zu Herrn Kremer und teile nachfolgend – mit seinem Einverständnis – seine Erinnerungen mit.

* * *

Ich bin geboren am 26. Januar 1925 in Köln-Lindenburg, aufgewachsen bin ich im Dorf Walberberg bei Bonn. Anfang 1938 hatte meine Mutter von einer Bekannten im Dorf gehört, dass mehrere Kinder aus Bonn und Umgebung in einer Gruppe in Ferien fahren könnten. Die Kosten würden getragen. Der Zufall wollte es, dass ein Heinrich Braun aus Sechtem zurückgetreten war und ich dafür mitfahren konnte. In Köln-Deutz wurde der Zug eingesetzt. Unsere Begleiter waren hiesige, wahrscheinlich Vertreter der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt). Jedes Ferienkind bekam ein Transportschild umgehängt, das ich bis heute aufbewahrt habe. Die Fahrt ging über Berlin, Küstrin, Schneidemühl, Deutsch Krone nach Tütz. Wir fuhren und fuhren, wussten aber nicht, was uns erwarten würde. Wir saßen auf Holzbänken. Untereinander kannten wir uns nicht und so kamen auch keine besonderen Gespräche auf. Die Fahrt ging an einem Stück, vielleicht über Nacht. Unterwegs wurden wir gut versorgt.
Am Endbahnhof Tütz angelangt, wurden wir auf dem Bahnsteig versammelt. Dort standen schon die Personen, die uns zu den einzelnen Aufenthalten bringen sollten. Wir wurden also erwartet und abgeholt. Für Königsgnade war ein Pferdewagen mit geschlossenen Bracken gekommen. Ich stieg mit vielleicht zwei oder drei anderen Kindern auf und wir fuhren über Lubsdorf und Marzdorf nach Königsgnade. Dort angekommen, wurden wir von den Gasteltern übernommen. Ich kam in die Familie Martin Radke, wie es auf meinem Adresszettel vorgesehen war.

Die Bauernhöfe in Königsgnade waren abgeschlossene Anwesen. Es herrschten allgemein strenge Verhältnisse, es wurde unterschieden zwischen Herrschaft und Gesinde. Ich wurde der Magd Maria zugeteilt, unsere Schlafkammern lagen nebeneinander im Hausgiebel über der Gesindeküche. Ich habe immer noch das Geräusch der Gänse im Ohr, die oft vor dem Giebel standen.
Anfangs bedrückte mich der Aufenthalt in Königsgnade sehr, ich wäre am liebsten umgehend wieder nach Hause gefahren. Da kam eines Abends ein schweres Gewitter, es blitzte und donnerte. In der Schlafkammer auf dem Dachboden fühlte ich mich allein und hatte Angst. Ich stand auf und setzte mich weinend auf die untere Stufe der Holztreppe. Dort fand mich Frau Radke. Als ich ihr von meinem Befinden erzählte, nahm sie mich zum Essen mit in die Wohnung. Es gab Kartoffel und Quark mit Zwiebelgrün. Nach diesem Abend fühlte ich mich wohler und der Alltag spielte sich freudiger ab.
An einem der folgenden Tage kam uns eine Betreuerin besuchen. Wir setzten uns auf eine Mauer, die sich auf der Straßenecke von Königsgnade ins Nachbardorf Marzdorf befand. Ich weiss nicht, woher die Betreuerin kam. Ich weiss auch nicht, warum die Begegnung draussen auf der Mauer stattfand. Hatte die Betreuerin kein besonderes Verhältnis zu den Leuten im Dorf? Wie kam es dann überhaupt zu dieser Ferienaktion aus dem Rheinland? Wir haben das nicht hinterfragt.
Wir waren wohl etwas über zehn Kinder, die verteilt waren auf Königsgnade und Marzdorf. Eine Maria Lanzerath aus Bonn war in dem Herrenhaus in Marzdorf untergebracht, sie beklagte sich auf dem dortigen Dorffest über die strengen Verhältnisse. Hans Beckmann, der ebenfalls aus Walberberg stammt, war in Königsgnade bei einer Familie untergebracht, die einen behinderten Sohn hatte. Den Namen kennt er nicht mehr, es war jedoch das zweitletzte Haus rechts vom Dorfeingang. Ein weiterer Junge kam in der Gastwirtschaft unter.
Einmal gab es in Königsgnade ein Dorffest und hinter und vor der Gastwirtschaft wurde sich amüsiert. Im Garten wurde Sackhüpfen und Schubkarrenrennen veranstaltet, im Strassenbereich war ein Kettenkarussell aufgebaut. Es war schön anzusehen, wie die Jungen und Mädchen durch die Luft flogen. Das Vergnügen kostete nur wenige Pfennige. Zu dieser Zeit waren auch einige Kinder aus Berlin anwesend, von denen es hieß, sie wären in Ferien. Kontakt bekamen wir nicht. Es gab ja auch gewisse Sprachbarrieren, denn wir aus dem Rheinland sprachen hauptsächlich unser rheinisches Platt, wir verstanden zwar Hochdeutsch, sprachen es aber nur mit Unbehagen.
Das Gänse- und Kühehüten gehörte zum Alltag. Eines Tages zog ich mit der Maria – sie mochte achtzehn oder zwanzig Jahre alt sein – mit den Kühen vom Hof los zum Hüten. Herr Radke ging mit und wies uns ein größeres mit Klee bewachsenes Feld zu, das mit etwas Gefälle zum Bach hin lag. Unsere Aufgabe war nun, die Kühe nicht in die untere Hälfte gehen zu lassen. Die Maria – als Oberhüterin mit entspechender Erfahrung – setzte sich mit mir an den oberen Weg. Plötzlich sahen wir, wie die Kühe in den unteren Bereich gingen. Beim Versuch, das Vieh in den oberen Bereich zurück zu treiben, trampelte dieses die ganze untere Wiese platt. Oje–! Als Herr Radke zur Kontrolle kam, sah er die Bescherung. Es ging ein »Donnerwetter« los und Herr Radke ordnete den Rückzug zum Hof an.
Eines Tages hatte die Maria Lust auf etwas Süßes. Ich bekam – im Einvernehmen mit der Herrschaft – den Auftrag, nach Märkisch Friedland zu fahren. Hierzu benutzte ich ein Damenrad. Die Fahrt ging teils durch einen Waldbezirk (Heidelandschaft). Die Straße vom Dorf bis zum Ziel war nicht befestigt, die Straße in Märkisch Friedland mit dicken Kieselsteinen gepflastert. In der Bäckerei, die auf der linken Straßenseite lag, angekommen, begann für mich eine komische Aufgabe. Ich genierte mich, das auszusprechen, was ich für die Maria holen sollte: »Liebesknochen«. Die Bäckerin kannte jedoch die Familie Radke und als ich sagte, dass ich von der Maria geschickt wurde, wusste sie Bescheid. Ich bekam die »Liebesknochen« und wunderte mich über die Selbstverständlichkeit der Übergabe.
Wie gesagt: Die Straße im Dorf war unbefestigt. Einige Tage nach unserer Ankunft kam eine Dampfwalze. Es wurde angefangen, die Straße nach Marzdorf zur Kirche hin mit einer wassergebundenen Schotterdecke zu befestigen.
Die Maria war ein schüchternes Mädchen, die nach Anweisung oder Gewohnheit in aller Stille ihre Arbeit tat. Sie hatte dunkles Haar. Der Karl war von kräftiger Natur, er wohnte nicht im Haus, sondern hatte eine Kammer über der Remise. Was mir auffiel: Die Arbeit auf dem Hof wurde in Ruhe und mit Leichtigkeit getan. Die Pferde wurden nicht geschlagen, sondern geleitet. So habe ich mich gewundert, dass mit zwei Pferden die Kartoffeln gehäufelt wurden. Diese Tatsache habe ich damals nach Hause berichtet.
Der Bruder Paul, das weiß ich noch, hatte eine Leidenschaft für Schuhe, er putzte sie oft und bürstete sie bitzeblank. Er hatte sogenannte kurze Ziehstiefel ohne Schnürriemen – für mich etwas ganz Besonderes. Zu jeder Gelegenheit zog er die entsprechenden Schuhe an: Morgens diese, am Nachmittag andere, für den abendlichen Ausgang wieder andere. Sonntags natürlich die Schönsten. Für diese Prozeduren setzte er sich oft auf die zwei oder drei Trittstufen, die von der Haustür zum Hof führten.
Die Essgewohnheiten waren den Produkten des Hofes angepasst, es gab Kartoffel, Getreide, Fleisch von Schwein, Rind und Geflügel. Die Dauer- bzw. Hartwurst habe ich nicht vergessen. Es hieß: Für das Gesinde wird ein Zuchtschwein geschlachtet.
Herr Radke betonte mir gegenüber immer, dass er mit seinen Kartoffeln die Rheinländer versorgt. Ich antwortete ihm dann, dass wir im Rheinland auch selbst Kartoffeln hätten. Den Geruch der Kartoffeln, die in der Scheune sortiert wurden mit einem einfachen, hölzernen Schrägrechen, habe ich noch in der Nase.
Ab und zu ging ich Donnerstags mit Herrn Radke an den Bach wo die Kleewiese war, wir fingen dort mit einem Netz Fische, die man Karauschen nannte. Es waren kleine gedrungene Fische, die sehr viele Gräten hatten. Das Wasser des Baches war glasklar. In der Nähe des Dorfes lag ein anderen See mit glasklarem Wasser im Wald.
Ich sah Frau Radke vor der Futterküche sitzen, wie sie die Gänse mästete; man nannte das »stopfen«. Es war die heile Welt. Eines Tages sah ich Herrn Radke zu, wie er eine Gans zum Braten vorbereitete. In der Gesindestube war in der Ecke zum Kamin hin eine Wasserstelle. Herr Radke hielt dort die Gans auf seinem Schoß und öffnete mit einem scharfen kleinen und spitzen Messerchen ein Löchelchen in die Kopfhaut der Gans. Die Gans verblutete so und man hatte den Eindruck, dass sie das nicht spürte. Also keine Grausamkeit. Die Gans wurde anschließend gerupft, Daunen und Federn sorgfältig getrennt und aufbewahrt. Mit den Daunen wurden Kissen und Plümeaus gefüllt, in den Betten war es entsprechend angenehm und kuschelig.
Sonntags wurde die wunderschöne Kutsche im Hof mit den vier Pferden bespannt, auf dem Bock saß Bruder Paul in Sonntagsschuhen und mit der Sonntagspeitsche, im Fond die Herrschaft und ich stolz an Frau Radke angelehnt. An der Kirche wurde ausgestiegen, Frau Radke stellte mich einigen Verwandten oder Bekannten als Ferienkind vor. Die Kutsche mit den Pferden wurde gegenüber der Kirche geparkt, die Pferde mit einem Hafersack versorgt. Die Kirche war immer überfüllt, Frauen und Männer saßen getrennt, die Knaben – also auch ich – mussten stehen. Der Küster sah jedem in die Augen, wenn er die Kollekte sammelte. Der Klingelbeutel war von wertvoller Machart, Samt mit goldenen Einfassungen und einem schweren Handgriff. Das alles hat mich damals so sehr beeindruckt, dass es mir bis heute gegenwärtig geblieben ist.

(Aus dem »Deutsch Kroner Heimatbrief«, April 2007)

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